Solidarität ohne Grenzen?
Wie weit soll Solidarität reichen? Vor 5 Jahren diskutierten Carolin Emcke und Herfried Münkler im Philosophie Magazin über Verantwortung im Ausnahmezustand. Anlass damals war der Syrienkrieg.
Philosophie Magazin: In einem Interview aus dem Jahr 1979, in dem es um die damaligen Flüchtlingskrisen in Südostasien ging, bemerkte Michel Foucault: „Ich fürchte, dass das, was in Vietnam geschieht, nicht nur eine Fortsetzung der Vergangenheit, sondern auch ein Vorbote der Zukunft ist.“ Trifft das auch auf die heutige Situation zu, sodass die derzeitigen Flüchtlingsströme womöglich nur der Anfang sind?
Herfried Münkler: Migration hat es immer gegeben. Im 19. Jahrhundert haben die Europäer rund 50 Millionen Menschen nach Nordamerika abgegeben. Im 20. Jahrhundert gab es starke Binnenwanderungen in Europa, weil die Nachfrage nach Arbeitskraft sehr unterschiedlich war. Aber davon ist zu unterscheiden, dass wir momentan Flüchtlingswellen beobachten, die schwer zu steuern sind und von externen Ereignissen ausgelöst werden. Die über 60 Millionen Menschen, die nach Angaben des UNHCR heute auf der Flucht sind, fliehen vor Krieg und Gewalt auf der einen oder sozioökonomischer Aussichtslosigkeit auf der anderen Seite. Mit Blick auf Foucault ist nun die interessante Frage: Erklären wir das mit der europäischen Kolonialgeschichte oder eher mit Konstellationen, die nach dem Abzug der Europäer entstanden?Das Argument mit dem Kolonialismus scheint mir schon deshalb heikel, weil die Flüchtlinge aus Syrien dann ja alle nach Frankreich und Großbritannien weitergehen müssten. Denn das waren bekanntlich die Kolonial beziehungsweise Mandatsmächte in diesem Raum. Für Länder wie Österreich, Schweden oder Deutschland ergäbe sich keine Verantwortung. Vorbote der Zukunft könnte heißen: Flüchtlingsströme sind ein Ausgleich zwischen dem demografischen Defizit des Nordens und dem demografischen Plus des globalen Südens.
Carolin Emcke: Ich habe Foucault vielmehr so verstanden, dass es gar nicht um konkrete Fluchtursachen geht, sondern um eine paradigmatische Konstellation für die Gegenwart und Zukunft. Wellenartige Fluchtbewegungen erleben wir permanent, nicht ausnahmsweise. Zwar können wir die spezifischen Fälle in Syrien, Afghanistan oder Eritrea analysieren, aber mit Foucault wäre es sinnvoll über die gesamte Architektur globaler Beziehungen nachzudenken. Die Frage zum Kolonialismus wäre zudem: Ist es angebracht, gegenwärtige Verantwortung allein aus der historischen Schuld eines einzelnen Nationalstaats abzuleiten? Oder ergibt sich Verantwortung nicht schon aus der existierenden Not und unserer postnationalen, europäischen Fähigkeit zur Hilfe? Ein ehrlicher Blick auf die gegenwärtigen Bedingungen der globalen Finanzwirtschaft, aber auch des Klimawandels würde zudem gewisse neokoloniale Konstellationen wahrnehmen, aus denen sich ebenfalls Verantwortung ergibt. Es ist ja durchaus ironisch, dass Länder des Südens erst nach Rohstoffen und billigen Arbeitskräften ausgeschöpft werden, sobald diese Menschen aber hierherkommen, um Schutz und Arbeit zu suchen, wird auf sie reagiert, als beuteten sie den hiesigen Arbeitsmarkt aus. Allein ein Verweis auf die historische Verantwortung aufgrund des Kolonialismus reicht da nicht aus.
Münkler: Den Kolonialismus in den politischen Diskurs einzubringen, ist generell immer eine Einladung, die Diskussion auf die alten Kolonialmächte zuzuspitzen und damit andere Staaten zu entlasten.
Emcke: Ja, Argumente zum Nachweis von Verantwortung lassen sich auch in Entlastungsargumente transformieren.
Philosophie Magazin: Immanuel Kant hat im Ewigen Frieden das Weltbürgerrecht formuliert. Er schrieb: „Es ist hier nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann, so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen.“ Taugt das als Ratgeber für die Gegenwart?
Münkler: Im konkreten Fall nicht. Es muss nämlich klar sein, dass diejenigen, die Kant im Auge hatte und die zu seiner Zeit in der Neuen Welt ankamen, als Bauern nach Grund und Boden suchten. Einen Rechtsanspruch darauf sieht Kant sehr skeptisch. Während John Locke argumentierte, dass die ursprüngliche Bevölkerung, die amerikanischen Ureinwohner, die neolithische Revolution noch nicht vollzogen habe, also durch die fehlende Bearbeitung des Landes keine Besitzansprüche erworben habe, gibt es für Kant ein Recht der ursprünglichen Inbesitznahme. Dieses Recht erlischt auch nicht, weil andere fortgeschrittenere Produktionsverfahren besitzen und so Ansprüche an die Nutzung des Landes haben, da sie es erst urbar machen. Das alles ist heute nicht mehr der Fall. Die Leute wandern nicht ein, um sich bäuerlich anzusiedeln, sondern sie wandern in mancher Hinsicht in den Sozialstaat ein. Im Hinblick auf Migration ergibt sich dadurch eine größere Vulnerabilität der aufnehmenden Gesellschaft. Und es entstehen zudem Konkurrenzen, die vor allem im unteren Drittel der Gesellschaft ausgetragen werden. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Emcke: Der Verweis auf den Ewigen Frieden ist in der Tat ambivalent. Kant argumentiert zwar für ein Recht auf Gastfreundschaft, also ein Recht darauf, geschützt zu werden. Das ist schon sehr viel. Aber er unterscheidet auch noch zwischen Gastrecht und Besuchsrecht. Doch es gibt auch neuere philosophische Entwürfe, beispielsweise von Seyla Benhabib, die Kants Konzept klug weiterentwickeln. Kosmopolitismus und Demokratie scheinen zunächst nicht im Widerspruch, aber doch in Spannung zueinander zu stehen. Kosmopolitismus im Sinne Benhabibs meint, dass Menschen Anspruch auf rechtlichen Schutz haben. Nicht, weil sie Angehörige eines Staates, sondern schlicht Menschen sind. Und dieses Recht wird unabhängig von Grenzen behauptet. Eine Demokratie, darauf hat schon Hannah Arendt hingewiesen, ist jedoch an den souveränen Willen einer politischen Entität gebunden. Benhabib sieht gegenwärtig nun eine Art Übergangsmodus von internationalen hin zu kosmopolitischen Normen der Gerechtigkeit. Das heißt: Rechte und Pflichten werden nicht mehr allein durch staatliche Verträge geregelt, sondern das Individuum wird als Mitglied einer globalen Zivilgesellschaft zunehmend zum Träger von Rechten. Ein Teil der aktuellen Konflikte hat deshalb auch mit der Frage zu tun, welche normativen Standards der Anerkennung und Versorgung von Geflüchteten durch Nationalstaaten und welche wiederum durch supranationale Institutionen – vor allem der EU – festgelegt werden. Ein anderer Aspekt betrifft die Frage, auf wen es die meisten Auswirkungen hat, dass Geflüchtete hierherkommen? Es zeigt sich schon jetzt, dass Fragen der Verteilung, sozialen Ungleichheit und Mobilität besonders virulent werden. Das löst sich allerdings nicht, indem man die einen Ausgeschlossenen gegen die anderen oder Arbeitslose gegen Geflüchtete ausspielt.
Münkler: Spannungen wird es vor allem auch auf dem Wohnungsmarkt geben; vielleicht auch auf dem Arbeitsmarkt.
Emcke:´Dieser Aspekt ist sehr wichtig. Die Versäumnisse in der Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte werden nun deutlich. Die absichtsvolle Gleichgültigkeit, mit der etwa in Frankreich die Entstehung von urbanen Ghettos in den Banlieues befördert wurde, sollte sich hier nicht wiederholen. Die Massenunterkünfte sind eine pragmatisch kurzfristige Lösung, aber sie dürfen nicht zu langfristigen Orten der Randständigkeit werden. Gleichzeitig, bei aller Freude über die Begeisterung, mit der die Industrie- und Handelskammern auf die Flüchtlingswelle reagieren, darf Skepsis aufkommen, ob die Inklusion von Geflüchteten zu einer Unterwanderung des Mindestlohns genutzt werden könnte. Man muss garantieren, dass diese nicht als Alibi instrumentalisiert werden, um etablierte Standards zu unterlaufen. Es ist sicherlich hilfreich, neben den moralischen auch ökonomische Gründe zuzulassen, warum Geflüchtete aufgenommen werden sollten. Weil sie eben keineswegs allein eine Last oder Pflicht darstellen, sondern auch Vorzug und Gewinn sein können: ethisch, kulturell, sozial, aber eben auch ökonomisch. Die Gefahr des Diskurses der Nützlichkeit besteht nur darin, dass Geflüchtete so als Mittel und nicht als Zweck in sich wahrgenommen werden, das wäre Kants Sorge. Zudem birgt es auch die Gefahr der Selektion in „brauchbare“ und „unbrauchbare“ Menschen.
Münkler: Es scheint mir eine grundsätzliche Frage, ob wir Ordnungen über Grenzen oder über Ströme denken – Ströme von Menschen, Kapital, Informationen und Gütern. Die globale sozioökonomische Ordnung der letzten 50 Jahre ist ein spezifisches Arrangement von Grenzen und Strömen, das darauf beruht, dass unsere Wohlstandssteigerung durch die Beteiligung an Strömen zustande kommt, etwa mittels Freihandel, die entsprechende Allokation des Wohlstands aber dem nationalstaatlichen Modell folgt, also an Grenzen orientiert ist.
Emcke: Um es zugespitzter zu formulieren: Bei den Einnahmen machen wir keinen Unterschied, wo die (Geld-)Ströme herkommen, bei ihrer Verteilung werden die Grenzen aber dann doch wieder relevant. Das Kapital darf sich frei bewegen, die Menschen aber nicht.
Münkler: Ja, Ströme von Kapital, Dienstleistungen, Informationen und auch Touristen sind in diesem Modell vorgesehen, Flüchtlinge aber nicht. Wie kommen wir also in ein neues Arrangement des Verhältnisses von Grenze und Strom? Wie Sie sagten, haben wir auf der einen Seite verdient, auf der anderen dann aber zugemacht. Ein radikales Regime der Ströme würde den Wohlfahrtsstaat jedoch zerstören, da dieser darauf angelegt ist, die Zahl der Beiträger und Empfänger in einer funktionierenden Relation zu halten.
Emcke: Aber setzt Ihre Rechnung dann nicht voraus, dass Geflüchtete den Wohlfahrtsstaat nur belasten? Die empirischen Studien zu den ökonomischen Kosten-Nutzen-Bilanzen von Migration suggerieren eher Mehreinnahmen.
Münkler: Nein, meine Rechnung ist ganz einfach: Ungarn kann sich beispielsweise einfach weniger Wohlfahrtsstaat leisten als Deutschland, ist aber auch weniger in die internationalen Ströme eingebunden. Und ob in Deutschland die Kosten-Nutzen-Bilanz aufgeht, wird davon abhängen, ob die Integration der Migranten gelingt. Diese Integration wird zuvor aber viel Geld kosten.
Emcke: Das wäre aber schon meine langfristige Vorstellung von Europa. Es allein als Projekt von ausgeglichenen Haushalten zu definieren, zu glauben, die einheitliche Währung könne der Auseinandersetzung über normative und politische Standards und Verfahren vorgängig sein, war kurzsichtig. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist eine Krise der Regierungen. Wie in einem Brennglas scheint in ihr aber auf, was Europa sein könnte und bräuchte. Nur ein Beispiel: Ohne eine Aufarbeitung der historischen Verbrechen, ohne Erinnerungskultur und offene Archive wird es in den osteuropäischen Gesellschaften kein bewusstes Bekenntnis zu Menschenrechten und Asylrecht geben. Diese Diskussion ist versäumt worden, wie überhaupt die Frage, wie demokratisch legitimiert, transparent und normativ bindend die EU sich verstehen will. Vielleicht helfen die Geflüchteten Europa in diesem Sinne mehr als wir ihnen, weil sie uns zwingen zu definieren, was Europa sein will.
Münkler: Im Moment gibt es keine gemeinsame europäische Orientierungserzählung. Das alte „Nie wieder Krieg“- Narrativ hat an Kraft verloren. Wenn man nun mit Blick auf die Herausforderungen der Flüchtlingskrise in zehn Jahren sagen könnte, um Frau Merkels Ausspruch aufzugreifen, „Wir haben das geschafft“, dann wäre das eine wunderbare europäische Erzählung. Angesichts der geringen Aufnahmezahlen von Großbritannien und Frankreich sowie der notorischen Verweigerung der Visegrád-Staaten sehe ich derzeit jedoch nicht, dass diese wirklich gesamteuropäisch werden könnte. Momentan wäre es lediglich eine partialeuropäische Erzählung, die sich im Wesentlichen auf Deutschland, Österreich und Schweden beschränkt.
Emcke: In Frankreich sind die politischen Eliten leider gelähmt in ihrer Unfähigkeit, mit Marine Le Pen umzugehen. Man wird selbst so rechtspopulistisch, dass man sich gerade noch im Amt hält. Oder nehmen sie das Beispiel Slowakei, wo die Regierung kürzlich verkündete, dass sie nur Christen, keine Muslime aufnehmen wolle. Derlei stützt Ihre pessimistische Diagnose. Andererseits habe ich noch nie erlebt, dass so viel über Europa diskutiert worden ist wie jetzt. Und es fragt sich doch auch, ob es denn wirklich eine große, originale Erzählung gab oder geben kann? Oder ob nicht jede kulturelle Narration immer schon Original und Fälschung zugleich ist, weil sie sich in einer Doppelzeitigkeit bewegt: Sie ist bemüht um Stabilität, um einen Kern, der unverändert bleibt, und sie ist doch offen und dynamisch. Insofern ist es nie zu spät, eine gemeinsame, hybride, offene Erzählung für Europa zu entwickeln: im Hinhören und kontroversen Austragen.
Münkler: Dass derzeit viel über Europa geredet wird, kann aber auch ein Krisenphänomen sein.
Emcke: Das stimmt. Im Verhältnis zu Aussagen wie „Europa findet nur in Brüssel statt“ ist jetzt aber klar, dass Europa gerade überall stattfindet. In jeder Diskussion, in der verhandelt wird, wer wir sein wollen. Und wir sollten dabei nicht so tun, als sei es nur Deutschland, das sich in europäischer Zivilität übt. Auch in Ungarn gab es zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die Regierungspolitik. Man muss also sehen, wie viel Druck sich erzeugen lässt, um nicht nur die Frage nach den Verteilungsquoten, sondern auch die der Standards der Unterbringung zu klären. Darüber ließe sich womöglich ein partialeuropäisches Narrativ ausbauen.
Philosophie Magazin: Die Flüchtlingskrise zeigt auch, dass wir immer mehr in einem Zeitalter des permanenten Ausnahmezustands leben. Was bedeutet das insbesondere für die Zukunft des Asylrechts?
Münkler: Das Asylrecht ist eigentlich ein Individualrecht. Es ist von seiner Konzeption her nicht auf diesen Massenanspruch ausgelegt, sodass wir vor einer Situation stehen, in der man einerseits versucht, seinen normativen Selbstbindungen gerecht zu werden, also dem Anspruch, dass das Asylrecht keine Obergrenze kennt, und es andererseits den realiter vorhandenen Möglichkeiten anzupassen. Frau Emcke hatte die Banlieues angesprochen. Insofern ist es sicher richtig, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden, in der vieles, was unter normalen Bedingungen aufgeschrieben wurde, sich möglicherweise nicht auf Dauer durchhalten lässt. Jedes Jahr eine Million Zuwanderer wird Deutschland nicht verkraften, das ist völlig klar.
Philosophie Magazin: Wird der Ausnahmezustand die Regel?
Münkler: Er darf nicht zum Normalzustand werden. Richtig ist aber auch, dass der Ausnahmezustand der eigentliche Test auf die Belastbarkeit von Aussagen ist. Schöne Worte werden hier auf ihre Machbarkeit geprüft. Da zeigt sich dann die ungeheure Zentrifugalität innerhalb der Europäischen Union. Deshalb besteht der zentrale Imperativ der deutschen Politik darin, permanent Zentripetalkräfte aufzubringen. Und um diese Aufgabe zu erfüllen, muss man auch großzügig sein. Daraus resultieren Macht und Einfluss; deswegen versuchen einige europäische Regierungen, die deutsche Großzügigkeit herunterzureden.
Emcke: Seitens Human Rights Watch gibt es die Forderung, statt sicherer Herkunftsstaaten lieber unsichere Herkunftsstaaten zu definieren. Das Asylrecht als Individualforderung, das zurzeit an seine logistischen Grenzen zu stoßen scheint, wäre damit ergänzt um eben jene Länder, bei denen wir wissen, dass Geflüchtete aus diesen Kriegsgebieten oder Unrechtsregimen einen legitimen Anspruch auf Asyl hätten. Wir werden nicht umhinkommen, das zu diskutieren. Zumal es in der deutschen Geschichte schon einen ähnlichen Fall gab. Helmut Kohl hatte einst mit Heinz Galinski, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, vereinbart, für Juden aus der Sowjetunion, also für eine bestimmte Gruppe in einer bestimmten Notsituation, ein pauschales Anrecht auf Schutz zu gewähren.
Münkler: Ich glaube nicht, dass Begriffe wie Sicherheit oder Unsicherheit hier weiterhelfen. Denn viele haben sich ja auf den Weg gemacht, obwohl sie beispielsweise in den jordanischen Auffanglagern nicht mehr unmittelbar bedroht werden. Der Grund ist vielmehr die dort herrschende Perspektivlosigkeit. Was gewinnen wir also, wenn wir den Begriff der unsicheren Herkunft einführen, auf den sich dann die politische Auseinandersetzung verschiebt, und wir darüber streiten, ab welchem Grad von Gewalt ein Staat als unsicher klassifiziert wird? So erhöht man nur den Preis für Pässe der als unsicher deklarierten Staaten.
Emcke: Es gibt ja bereits die Kategorie der sicheren Herkunftsstaaten. Mir scheint die Definition unsicherer Herkunftsstaaten sinnvoll, weil es eine Antwort auf die derzeit konstatierte logistische Überforderung durch individuelle Prüfung wäre. Das Asylrecht ist als qualitativer Anspruch unveräußerlich. Es kann nicht dadurch ausgehebelt werden, dass es zu quantitativen Grenzwertbestimmungen kommt. Es kann lediglich aus pragmatischer Sicht abgeschätzt werden, dass die Verfahrensdauer zu lang und aufwendig ist, wenn am Ende bei gewissen Ländern wie Syrien oder Afghanistan ohnehin als gewiss gilt, dass Menschen von dort hier einen Anspruch auf Schutz genießen.
Philosophie Magazin: Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Europa neben Kriegs- und Armutsflüchtlingen bald auch noch mit vielen Klimaflüchtlingen konfrontiert sein wird. Ist es aus ethischer Perspektive überhaupt noch sinnvoll, Flüchtende nach diesen Kategorien zu unterscheiden?
Emcke: Ethische Verantwortung ist immer gegeben, wenn die Menschen aus Angst vor dem schieren Verrecken fliehen. Juristisch gibt es bislang einen großen Unterschied zwischen der Flucht vor dem Krieg und vor der Armut. Und auch in der politischen Frage, wie sich die entsprechenden Ursachen bekämpfen lassen. Man kann an den klimabedingten oder von Hungersnöten verursachten Fluchtbewegungen etwas ändern und den Menschen möglich machen, dort zu bleiben.
Philosophie Magazin: Aber inwieweit ist das praktisch tatsächlich möglich? Im Fall des Kosovo wurden seitens der EU Milliarden investiert. Ob der immer noch herrschenden Perspektivlosigkeit fliehen die Menschen aber trotzdem.
Emcke: Den Kosovo kenne ich als Reporterin aus dem Kriegsjahr 1999 relativ gut. Als die kosovo-albanischen Flüchtlinge aus Mazedonien oder Albanien nach Abschluss des Friedensvertrags in den Kosovo zurückkehrten, begannen unmittelbar die Roma-Viertel zu brennen. Da war schon früh absehbar, auf welche marginalisierten Gruppen sich der Hass verschiebt. Für Roma ist leider keiner der Balkanstaaten sicher. Es ist wichtig, auch Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppen wahrzunehmen. Auch Schwule, Lesben und Trans-Personen sind in vielen als sicher deklarierten Ländern massiver Bedrohung ausgesetzt. Insofern geht es nicht nur darum, ob Menschen vor Krieg oder sozioökonomischem Elend fliehen, sondern auch, ob sie um Leib und Leben fürchten müssen, weil sie anders glauben, lieben oder aussehen als die Mehrheit in ihren Ländern.
Münkler: Ich will noch mal auf die Situation der Roma auf dem Balkan zurückkommen. Hier müssten die Europäer starken Druck auf die einzelnen Länder ausüben, um die Situation dort tragfähig zu
Philosophie Magazin: Lassen Sie uns noch einmal auf Syrien zurückkommen. Hier scheint sich ein Paradox zu verdeutlichen: Haben die westlichen Interventionen in Afghanis tan, Libyen oder Irak Fluchtbewegungen erst produziert, so konstatieren immer mehr Beobachter, dass eine frühzeitige Intervention in Syrien eben diese hätte verhindern können.
Münkler: Das zeigt, dass wir offenbar die falschen Diskussionen geführt haben. Ein Zyniker wie Talleyrand hätte uns da etwas lehren können. Er antwortete nämlich auf die Frage, was der Unterschied zwischen einer Intervention und einer Nichtintervention sei, es gebe keinen. Wir müssen also vielmehr über die Qualität von Intervention nachdenken. Libyen ist ein gutes Beispiel für die Intervention einer postheroischen Gesellschaft, die nur ein paar Flugzeuge vorbeischickt und glaubt, dann würden sich die Dinge von alleine richten. Das war nicht der Fall. Insofern waren die Ergebnisse die selben, wie die der Nichtintervention in Syrien. Die nachvollziehbare Position, wir wüssten ja gar nicht, wer Freund oder Feind sei, und könnten uns „boots on the ground“ nicht leisten, stabilisiert die Lage ebenso wenig. Wir stehen vor dem Dilemma, nicht genau zu wissen, was der richtige Mix der Instrumente ist. Und da kommen wir dann notgedrungen in so eine schwierige Situation, dass man womöglich auch mit einer unappetitlichen Figur wie Assad verhandeln muss.
Emcke: Ich bin nicht sicher, ob es „heroischer“ war, blind-freudig in Kriege zu ziehen. Ich bin grundsätzlich misstrauisch gegenüber militärischen Interventionen: hinsichtlich ihrer Rechtfertigung, der Proportionalität der Mittel und vor allem der vernünftigen Erfolgsaussichten. Für Syrien scheint mir der Zeitpunkt für einen militärischen Einsatz, der die Versehrungen nicht noch vergrößert, längst verstrichen zu sein. Aber für politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen Druck auf Saudi-Arabien, Iran und alle internationalen Mitspieler ist es nie zu spät. Die Strategie der Finanzierung von lokalen „Ersatz“-Truppen hat übrigens nicht erst in Syrien nicht funktioniert.
Münkler: Ich bin auch kein großer Anhänger militärischer Mittel. Man muss die Potenziale militärischer, politischer und kultureller Machtsorten richtig bewerten und dann ein vernünftiges Portfolio erstellen. Gerade in postheroischen Gesellschaften gibt es eine notorische Überschätzung militärischer Aktionen.Das ist ein psychologischer Effekt der Selbstbindung, nicht militärisch zu agieren. Tut man es doch, muss es dann besonders effektiv und erfolgreich sein. Das ist einer der Hauptgründe für den unglücklichen Verlauf des Afghanistaneinsatzes. Das Projekt ist normativ überfrachtet worden. Es lief darauf hinaus, die afghanische Gesellschaft zu transformieren. Und das geht auf diese Weise nicht. Es gab aber auch relativ erfolgreiche Beispiele. Etwa die Entsendung von wenigen NATO-Soldaten nach Mazedonien, wodurch verhindert wurde, dass die ethnischen Konflikte sich dort politisierten, also mit Freund-Feind-Erklärungen versehen würden. Man muss über militärische Macht unter dem Gesichtspunkt der Effizienz nachdenken, sich also von der Blockierung freimachen, sie immer nur moralisch zu bewerten.
Emcke: Das Interessante ist doch, dass die Skepsis gegenüber militärischem Handeln nicht nur bei eher pazifistischen Beobachterinnen wie mir, sondern vor allem auch beim Militär ausgeprägt ist.Viele amerikanische Generäle waren zum Beispiel gegen die Einsätze im Irak oder in Afghanistan. Ein anderer Punkt ist die Arroganz der Vorstellung des nation buildings. Die Vorstellung, eine schon im eigenen Land nicht vollständige Form von Nation zu exportieren, sehen wir in einem Land nach dem anderen scheitern.
Philosophie Magazin: In gewisser Hinsicht hat Deutschland durch die Vereinigung selbst erst eine Art nation building hinter sich. Welches Identitätsangebot können wir Geflüchteten hierzulande also machen?
Emcke: Wir haben zunächst eine Verfassung, einen grundgesetzlichen Rahmen, der gleichwohl auch historisch dynamisch sein kann. Was das Grundgesetz betrifft, mache ich mir bei Pegida oder AfD im Übrigen viel eher Sorgen. Aber natürlich müssen auch wir darüber nachdenken, wie eine Erzählung, die von allen geteilt werden kann, aussehen soll. Ein gutes Bild ist da Bachs Kunst der Fuge, für die es eine Partitur gibt, die jedoch unvollständig und ohne Arrangement ist. Man kann sich also an diesem Text, der Verfassung, orientieren, muss ihn aber stets interpretieren und fortschreiben.Wie das dann klingt, hängt auch davon ab, wer sie in welchem Arrangement aufführt. Das wäre eine Form eines Begriffs von Heimat oder Identität, die bestimmte Bedingungen hat, aber so dynamisch und inklusiv wie möglich sein kann.
Münkler: Ein aufgeklärter Rechtsstaat ist für das Funktionieren von Demokratien wichtig, aber er ist nicht alles. Es gibt auch die Responsivität der Bevölkerung. Die Bundesrepublik kann umso humanitärer agieren, je stärker sie in der Lage ist, mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein aufzutreten: Ja, ihr könnt hier eine neue Heimat haben, ihr werdet alle Ansprüche und Privilegien genießen, etwa die Religionsfreiheit. Aber Religion ist nach dem Grundgesetz eben weitgehend privatisiert. Mich interessiert, dass der Zustrom von Menschen in die Bundesrepublik eine Erfolgsgeschichte wird. Denn wenn die Integration scheitert, wird bei der nächsten Herausforderung dieser Art die Fremdenfeindlichkeit in der Vorhand sein.
Emcke: Dazu gehört dann aber auch, dass nicht der Eindruck erweckt werden darf, Flüchtlinge seien Bürger zweiter Klasse. Es darf nicht einfach nur verkündet werden: Es gibt eine Erzählung und ihr singt die jetzt mit. Religionsfreiheit gilt nicht nur für Christen, sondern auch für Juden, Muslime oder Atheisten. Ich denke, die Freiheiten des Rechtsstaats und die Versprechen der Aufklärung werden weniger durch die Geflüchteten als durch die Rechtspopulisten gefährdet. Ein Erfolg wäre es, wenn nicht mehr dauernd in Kategorien von Identität und Differenz, sondern in Ähnlichkeiten gedacht würde. Menschen müssen nicht gleichartig sein, um als gleichwertig anerkannt zu werden – daran wird sich Europa messen lassen müssen. •
Carolin Emcke studierte in London, Frankfurt a. M. und Harvard Philosophie, Politik und Geschichte und promovierte über den Begriff „Kollektive Identitäten“. Sie lehrte als Gastdozentin u. a. in Yale und arbeitet als Journalistin, Kriegsreporterin und Publizistin. Ihre wichtigsten Werke zum Thema: „Von den Kriegen“ (S. Fischer, 2004), „Weil es sagbar ist“ (S. Fischer, 2013)
Herfried Münkler ist Professor für Politiktheorie an der Humboldt-Universität Berlin. Zu den Forschungsschwer- punkten des Machiavelli- Spezialisten zählen Kriegsge- schichte und Kriegstheorie. Zum Thema sind von ihm u. a. erschienen: „Macht in der Mitte“ (Edition Körber, 2015); „Kriegssplitter“ (Rowohlt, 2015)
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