Spiralen des Konsums
Wir sind stets auf der Jagd nach neuen Produkten – dabei wollen wir es einfach und kostenarm, am besten auch nachhaltig. Die Folgen: Läden verschwinden aus den Innenstädten, Berge aus Müll häufen sich an. Eine Bestandsaufnahme von Michael Jäckel.
Zu den wahrscheinlichen Folgen des aktuellen Zollkriegs könnte eine Überschwemmung des europäischen Markts mit Billigprodukten aus China gehören. Wer diese Prognose vernimmt, wird vielleicht mit einem staunenden „Noch mehr?“ reagieren. Denn es ist nicht nur die Preisschlacht auf Billig-Plattformen, die sich im Alltag des Konsums immer mehr in den Vordergrund drängt. Es ist zunehmend auch die Sorge um eine Verdrängung der vertrauten Konsumorte aus diesem Alltag. Hinzu kommen die Berichte über Mechanismen, die den vielleicht nicht ganz so mündigen Verbraucher zu manipulieren versuchen. Je intensiver die Konkurrenz auf den Märkten ist, desto häufiger verabschieden sich die vertrauten Konsumumgebungen. Eine Entfremdung von Strukturen und Gewohnheiten setzt ein. Das Unbehagen an der modernen Kultur bekommt ein weiteres Gesicht.
Ein Blick in deutsche Innenstädte genügt, um sich von einem Tod auf Raten des Qualitätsmarkts zu überzeugen. Zu Beginn dieses Jahres hat eine repräsentative Umfrage des Handelsverbands Deutschland (HDE) zwar noch einmal das Qualitätsbewusstsein des Verbrauchers bestätigt. Aber die „ordernde Gesellschaft“ legt Wert auf Bequemlichkeit und kann dem längeren Flanieren und Einkaufen in Fußgängerzonen offenbar immer weniger abgewinnen. Gemeinsam ist letztlich vielen, dass sie etwas gewinnen wollen: Beim Geldausgeben will man sparen, beim Einkauf aber gleichzeitig Gutes tun.
Machtlos angesichts des Überkonsums
Zu Recht wurde der Discountladen daher schon vor einigen Jahren als der Robin Hood des kleinen Mannes bezeichnet. Aber auch darüber ließe sich angesichts der Konsequenzen der angewandten Preispolitik für andere (z. B. Lieferanten) streiten. Überhaupt ist es die Vielfalt der Gelegenheiten, die den Konsum zunächst nicht mit Begrenzung oder Beschränkung in Verbindung bringt. Selbst der Discount bietet Premium-Produkte, also einen Hauch von Luxus, zu vertretbaren Konditionen. Allein die statistisch möglichen Kombinationen bieten vielfältige Möglichkeiten, den Einkauf außergewöhnlich erscheinen zu lassen.
Die Robin Hood-Metapher hat indessen Dauerkonjunktur. So ließ im Jahr 2021 zum Beispiel ein Supermarkt in seiner Werbung „Sir Robin“ Pfeile auf die Konkurrenz schießen. Es wurde gelacht und nebenbei auf die fehlerhafte Haltung von Pfeil und Bogen hingewiesen. Ebenfalls 2021 war es erneut Robin Hood, der einem alternativen Laden-Konzept seinen Namen gab. Die Verbindung zwischen Produzent und Konsument sollte direkter und gerechter werden. Und in der Welt der Automobile schließlich wurde ein Kleinwagen mit jenem Helden aus der englischen Ballade assoziiert.
Zur Geschichte des Discounts gehörte lange Zeit auch die individuelle Leugnung seiner Nützlichkeit und die Unterschätzung seiner Wirkung durch ungewohnt niedrige Preise. Das Unterschiedsbedürfnis der Menschen ist nun einmal ein fruchtbarer Boden für viele Strategien: dazu gehört vor allem das hybride Kaufverhalten, das im Sinne einer selektiven Bescheidenheit in unterschiedlichen Mischformen auftritt und eben auch das Spektrum des Einzelhandels variabel nutzt. Inmitten einer die Preise vergleichenden Menge will die eigene Bilanz das Konsum-Ich stärken. Sorgsam wird die Entwicklung der Innenstädte beobachtet, deren Besuch schließlich eng mit einem guten und attraktiven Ladensortiment korreliert. Die Abwärtsspirale, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wurde, hält an. Kleine Fachhändler und Filialbetriebe ziehen sich zurück. Für Nachfolger erweist sich eine Schätzung des voraussichtlichen Umsatzes als zunehmend schwieriges Unterfangen. Alles ist auf Kurzfristigkeit ausgelegt. Wenn bestimmte Ziele nicht erreicht werden, steigt die Nervosität. Wo sich Räume auftun, mieten sich daher vermehrt Restseller ein: fahrende Händler mit einer etwas längeren Standmiete. Es ist ein Kommen und Gehen, das negativ auf das gesamte Umfeld ausstrahlt. In den Städten kaschieren Schaufenster mit aufgebrachten Fotos von Geschäftsinnenräumen die dahinter sich ausbreitende Leere. Derweil werden unsere Bedürfnisse tagtäglich in Kartons (nun auch Papiertüten) verpackt und beflügeln das Streben nach neuen Logistik-Rekorden.
Auch die Waren, die sich im sogenannten Non-Food-Discount auftürmen, werden gerne mit hoher Qualität zu günstigen Preisen umschrieben. Der Konsument soll irritiert werden und sich fragen, wie denn so etwas eigentlich funktionieren kann. In einem bekannten Akronym verbirgt sich gar König Kunde (KiK=Der Kunde ist König). Als in den 1970er Jahren die ersten Plus-Märkte öffneten, stand das Akronym für „Prima leben und sparen.“ Kein Buchstabe wird dem Zufall überlassen. Des Rätsels Lösung, wie etwa weltweite Textil-Lieferketten überhaupt profitabel gestaltet werden können, interessiert wohl viele Konsumenten eher wenig, wenn Knappheit im Portemonnaie herrscht. Die jüngeren Discount-Wellen in diesem Bereich nähren den Eindruck, dass sich selbst diese Billigzonen auf der Ebene von Qualität und Preis noch in Differenzierung üben können.
Das Lamento über Fast Fashion scheint jedenfalls bislang die Zielgruppe nicht wirklich zu erreichen. Nur ein Prozent der alten Kleidung wird beispielsweise zu neuer verarbeitet. Und - so die Einschätzung von Kai Nebel, dem Leiter des Forschungsgebiets Recycling der Hochschule Reutlingen - die weltweit hohe Nachfrage nach Recycling-Polyester reduziere nicht die Neuproduktion von PET-Flaschen, sondern erhöhe sie. Man sieht den Irrsinn vor lauter Müll- oder Restebergen nicht. Alle, die sich in ihrem Umfeld für einen nachhaltigen Umbau des Wirtschaftens und Verbrauchens einsetzen, verzweifeln angesichts der Wucht eines Weltmarkts, der Nischen ausreizt und dann nach neuen sucht. Der aufrichtige Konsument arbeitet an seinem ökologischen Fußabdruck und sieht sich immer noch umgeben von Überproduktion und Überkonsum.
Veränderung erfordert Geduld
Unsere Gesellschaft ist in den letzten 50 Jahren von einer Vielzahl sogenannter „...isierungen“ heimgesucht worden. Stets lautete die Botschaft, dass eine Welle von uniformen Verbrauchsleitbildern die Gesellschaft durchdringt und über diesen Dienst am Kunden Bedürfnisse angleicht. Dazu zählte die McDonaldisierung, die Aldisierung, auch die Walmartisierung. Letztere musste im Jahr 2006 feststellen, dass es Grenzen der Marktbeherrschung gibt. Die deutschen Verbraucher wollten die US-amerikanischen Botschaften einfach nicht verstehen. Auch in der Welt des Konsums gibt es also Resilienz. Aber die gefühlte Inflation macht den Preis zu einem betörenden Signal. Schnell macht sich dann Kompromissbereitschaft bezüglich der eigenen Ideale breit. Im eisernen Käfig der Rationalität sorgt dieser für einen Hauch von Wohlbefinden. Aber zu dieser Geschichte gehört auch, dass es trotz des Basisprinzips gute Produkte und Ideen gab, die den Markt insgesamt auf Trab brachten. Darüber aber wurde eher selten gesprochen.
Wer das Gesicht der Konsumorte verändern will, braucht in diesen neuen Tempostrukturen Geduld. An der Auflösung dieses Widerspruchs kann man sich wahrlich die Zähne ausbeißen. Eine Renaissance der Innenstadt kann durch Schnäppchenjagd wohl nicht gelingen. Die Segmentierung der Märkte nach der vorhandenen Kaufkraft schreitet ebenso voran. Bis die häufig geforderte gute Mischung am Point of Sale wieder „Wallfahrten“ verschiedener Zielgruppen befördert, verlangt es auf vielen Ebenen gute Ideen, Ausdauer und vielleicht auch mehr Bescheidenheit.•
Michael Jäckel ist Professor für Soziologie und war von 2011 bis 2023 Präsident der Universität Trier. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen unter anderem die Medien- und Konsumsoziologie. Im März ist sein Buch „Konsum. Eine Abrechnung“ bei Springer erschienen.
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