Stephan Malinowski: „Die postkoloniale Deutung wird sich immer mehr durchsetzen“
Der deutsche Blick auf den Holocaust wurde auch von Habermas geprägt. Stephan Malinowski beleuchtet im Gespräch Habermas’ Interventionen in Geschichtsdebatten und mögliche Pfade künftiger Gedenkkultur.
Habermas verfasste 2021 für das Philosophie Magazin einen Essay der sich als Teil eines sogenannten „zweiten Historikerstreits“ verstehen lässt. Worum ging es im früheren Streit, auf den Bezug genommen wird?
Der erste Historikerstreit, der im Sommer 1986 begann, drehte sich, grob zusammengefasst, um Zusammenhänge zwischen nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen und die Frage der Vergleichbarkeit. Aufgebracht wurde sie durch den Berliner Historiker Ernst Nolte, der nicht nur die Vergleichbarkeit, sondern eine kausale Beziehung behauptete. Er argumentierte, der „Rassenmord“ der Nationalsozialisten sei eine Antwort auf den „Klassenmord“ der Bolschewiki gewesen. Man müsse zur Erklärung des Holocaust zur bolschewistischen Revolution von 1917 zurückgehen und zu den Verbrechen des Sowjetkommunismus und des Gulags. Der erste Historikerstreit ist sehr klar fokussiert auf den Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Sowjetunion. Übrigens verdient auch nur er diesen Namen. Habermas war fast der einzige Nichthistoriker in diesem Streit. Als Philosoph von weltweitem Renommee schaltete er sich an einem sehr frühen Zeitpunkt ein und trat dem Vergleich und seiner Verwertung entgegen. Er wurde dann von linksliberalen Historikerkollegen empirisch unterstützt und eskortiert.
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Stephan Grigat: „Es gibt eine konkrete Mitschuld der deutschen Politik am 7. Oktober“
Der Überfall der Hamas auf Israel vor genau einem Jahr war das schlimmste Pogrom an Juden seit dem Holocaust. Der Politikwissenschaftler Stephan Grigat kritisiert Deutschland für politische Geschäfte mit dem Iran und fordert eine Erziehung zur Mündigkeit im Sinne Theodor W. Adornos.

Der neue Historikerstreit
Der australische Historiker Dirk Moses bezeichnete das Festhalten an der Singularität des Holocaust jüngst als deutschen Katechismus und löste damit eine Debatte aus. Ist der Holocaust mit anderen, kolonialen Genoziden vergleichbar? Eine Antwort von Jürgen Habermas.

Wer sind "Wir"?
Als Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, tat sie dies, um die Deutschen zu einer anpackenden Willkommenskultur zu motivieren. Aber mit der Ankunft von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis stellt sich auch eine für Deutschland besonders heikle Frage: Wer sind wir eigentlich? Und vor allem: Wer wollen wir sein? Hört man genau hin, zeigt sich das kleine Wörtchen „wir“ als eine Art Monade, in der sich zentrale Motive zukünftigen Handelns spiegeln. Wir, die geistigen Kinder Kants, Goethes und Humboldts. Wir, die historisch tragisch verspätete Nation. Wir, das Tätervolk des Nationalsozialismus. Wir, die Wiedervereinigten einer friedlichen Revolution. Wir, die europäische Nation? Wo liegt der Kern künftiger Selbstbeschreibung und damit auch der Kern eines Integrationsideals? Taugt der Fundus deutscher Geschichte für eine robuste, reibungsfähige Leitkultur? Oder legt er nicht viel eher einen multikulturellen Ansatz nahe? Offene Fragen, die wir alle gemeinsam zu beantworten haben. Nur das eigentliche Ziel der Anstrengung lässt sich bereits klar benennen. Worin anders könnte es liegen, als dass mit diesem „wir“ dereinst auch ganz selbstverständlich „die anderen“ mitgemeint wären, und dieses kleine Wort also selbst im Munde führen wollten. Mit Impulsen von Gunter Gebauer, Tilman Borsche, Heinz Wismann, Barbara Vinken, Hans Ulrich Gumbrecht, Heinz Bude, Michael Hampe, Julian Nida-Rümelin, Paolo Flores d’Arcais.
Einzigartigkeit und Erweiterung
2021 wurde in der deutschen Öffentlichkeit eine hitzige Diskussion um die Singularität des Holocaust geführt. Ist dieser mit anderen Genoziden vergleichbar? Welche Stellung sollte kolonialen Gewaltverbrechen in der Erinnerungskultur zukommen? Jürgen Habermas nahm damals Stellung im Philosophie Magazin.

Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
Wie denkt es sich im Süden?
Onur Erdur untersucht, wie die französische Theorie vom Maghreb geprägt wurde – und eröffnet damit eine neue, postkoloniale Perspektive.

Gayatri Spivak: „Identität sollte nur dann als Waffe genutzt werden, wenn die andere Seite sie einsetzt“
Ihr Aufsatz Can the Subaltern Speak? hat die postkoloniale Theorie fundamental geprägt. Ein Gespräch mit Gayatri Chakravorty Spivak über eine Karriere zwischen Kontinenten, identitäre Verhärtungen und die Frage, welchen Widerstand es in den USA heute bräuchte.

Per Leo: „Die identitäre Fixierung auf den Holocaust löst keine Probleme mehr, sie schafft neue“
Die Singularität des Holocaust galt lange als unbestreitbar. Nun regt sich Widerspruch. Wie erklärt er sich? Und ist er berechtigt? Ein Interview mit dem Historiker und Schriftsteller Per Leo.
