Strom als Subjekt
Vor 20 Jahren fiel in den USA und Kanada der Strom aus. Für die politische Philosophin Jane Bennett handelte es sich hierbei um einen Aufstand der Materie, die wir in den Kreis der Subjekte aufnehmen sollten.
Am 14. August 2003 brach im Nordosten der USA und im Osten Kanadas die Stromversorgung zusammen. U-Bahnen blieben stecken, Handynetze kollabierten, der Flugverkehr in New York, Cleveland und Toronto musste eingestellt werden. Die Börse an der Wall Street setzte den Handel aus, Krankenhäuser aktivierten den Notstrom. 50 Millionen Menschen saßen im Dunkeln. Es war der größte Blackout der US-Geschichte. Nachdem ein Terroranschlag schnell ausgeschlossen werden konnte, begann die Suche nach Schuldigen, die bis heute nicht abgeschlossen ist.
Wer ist schuld?
Vorwürfe wurden zunächst gegen den Strombetreiber FirstEnergy erhoben, der es versäumt hatte, seine Netze zu warten und Kontrolleure zu schulen, sodass eine unentdeckte Störung in einem Kraftwerk von Ohio zum Epizentrum des Blackouts werden konnte. Allerdings, so ergaben die Ermittlungen, hat auch eine fehlerhafte Software der Firma General Electric, die von einem Virus befallen war, dazu geführt, dass die Störung niemandem auffiel. Weiterhin hätte eine regionale Kontrolleinrichtung in Indiana verhindern müssen, dass die Panne aus Ohio auf andere Bundesstaaten übergriff, jedoch ebenfalls versagt.
Schnell wurden zudem politische Vorwürfe laut: Haben nicht staatliche Deregulierungsmaßnahmen erst einen Anreiz für den Strombetreiber geschaffen, das Netz für Profite auszuquetschen und in marodem Zustand zu hinterlassen? Und wurde die gestiegene Stromnachfrage der Verbraucher nicht gesamtwirtschaftlich angeheizt? Ohne dass die Regierung entsprechende Maßnahmen zur Stabilisierung des Stromflusses ergriffen hatte. Hinzu kommt eine Verkettung unglücklicher Umstände: Ein Buschfeuer in Ohio hatte zahlreiche Leitungen gekappt. Auch Bäume, die zu nah an die Hochspannungsleitungen herangewachsen waren, durch einen Sturm umfielen und einen Kurzschluss verursachten, spielten eine Rolle.
Der Pressesprecher von FirstEnergy wies zudem auf die besondere Eigenschaft des Stroms hin, dessen Wege mitunter unergründlich sind: Am 14. August 2003 hatte er plötzlich seine Fließrichtung geändert und die Netze in New York, Ontario und Michigan überlastet. Gegenüber solchen „loop flows“ sind die Betreiber machtlos, sie können das System installieren und überwachen wie ein Arzt, aber leben muss es von allein. Das Stromnetz, schrieb die International Harald Tribune, habe an diesem Tag „Herzflattern bekommen [...] Durch seine Komplexität entzieht“ es sich „dem Verständnis“. Es „lebt, und stirbt zuweilen auch, nach seinen eigenen mysteriösen Gesetzen“.
Vitaler Materialismus
Was auf den ersten Blick absurd scheint, ist für die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Jane Bennett der Normalfall (nach-)moderner Gesellschaften. In ihnen handeln nicht allein Menschen, sondern auch „nicht-menschliche Aktanten“, deren Zusammenspiel letztlich den Stromausfall herbeigeführt habe: „Kohle, Schweiß, elektromagnetische Felder, Computerprogramme, Elektronenströme, Gewinnmotive, Hitze, Lebensweise, Kernbrennstoff, Plastik, Herrschaftsfantasien, Reibungselektrizität, Rechtsprechung, Wasser, Wirtschaftslehren, Draht und Holz“ ergeben eine „flüchtige Mischung“, ein „wirkmächtiges Gefüge“, das man eher lebendig als tot nennen muss.
Für Bennett ist der Stromausfall am 14. August 2003 daher ein Paradebeispiel für ihre Theorie des „vitalen Materialismus“, die Gegenständen Handlungsfähigkeit zuspricht. Deren „Ding-Macht“ findet in den meisten Gesellschaftstheorien kaum Beachtung, ist aber für den Lauf der Geschichte entscheidend: Die Ernährungsweise kann das Wahlverhalten beeinflussen, ein Orkan einen Präsidenten stürzen, ein Rohstoffvorkommen die Politik eines Landes bestimmen.
So wie man dem Krieg eine gewisse „Eigendynamik“ zuspricht oder dem Kapital eine Absicht unterstellt, müsse man alle scheinbar toten Dinge als lebendig begreifen. Im Gegensatz zum alten Materialismus – hier schließt sie an Gilles Deleuze an –, betont Bennett die Grenzen der „Entmystifizierung“, sodass ihre „neo-animistische Ontologie“ für traurige Weberianer eine frohe Botschaft hat: In der modernen Welt geht es viel magischer, zauberhafter und unerklärlicher zu, als wir bislang dachten. Auch bei menschlichen Schöpfungen wie dem nordamerikanischen Stromnetz bleibt ein Rest, der sich unserem Verständnis entzieht, unser Leben aber bestimmt.
Rancière und die Politik der Dinge
Interessant sind nun die demokratietheoretischen Schlussfolgerungen, die Bennett daraus zieht: Wenn die Materie lebt und unser Leben beeinflusst, müssen wir auf sie hören, um unsere Angelegenheiten zu regeln. Sie wird zum Politikum, und zwar nicht als zu bearbeitenden Objekt, sondern als Subjekt, das eine Stimme braucht. In Ergänzung zu Jacques Rancière, dem zufolge Politik dort stattfindet, wo die Nichtbeachteten sprechen und die Routine der Zählweise durchbrechen, verlangt Bennett, nicht nur verfemte Menschen in den Demos aufzunehmen – dies ist die Demokratisierungsgeschichte der vergangenen 250 Jahre –, sondern auch Tiere, Pflanzen und Dinge.
Schwierig wird nur die Umsetzung. Denn wie soll die Materie sprechen? Braucht sie dafür nicht einen Vertreter? Wäre das nicht der Experte, der Kenner der Materie, der ihr Anliegen vorträgt, sodass wir paradoxerweise am Ende der radikalen Demokratie bei einer Expertokratie angelangen, dem vermeintlichen Gegenteil?
Denkbar ist auch eine Selbststeuerung der Materie, die durch künstliche Intelligenz zunehmend in die Lage versetzt wird, für sich selbst zu sprechen, und den Experten nicht mehr braucht. Als Fraktionsvorsitzende der Materie-Partei dürfte KI schon bald in der Lage sein, die Parlamente aufzumischen. Vielleicht wäre sie sogar eine gute Kanzlerkandidatin.
Aber vermutlich ist auch das noch zu sehr im Rahmen des Bestehenden gedacht. Nach Bennetts Rancière-Lesart verlangt der politische Akt ja gerade eine Neuaufteilung des „Sinnlichen“, die das, „was die Mächtigen bis dahin als Lärm wahrgenommen haben, in ihren Ohren wie argumentative Aussprüche […] klingen“ lässt. Erst wenn das Knistern des Stroms als legitimes Argument erscheint, ist die Demokratie vollkommen.
Ein Einschluss der stummen Teile ohne Anteil (Tiere, Pflanzen, Gezeiten, Dinge) verlangt daher einen Umbau des Parlaments als Entscheidungszentrum (das von parler, reden, kommt, weshalb es immer um die Sprechweise geht) – weg von der konventionell-menschlichen Sprache, hin zur Resonanz der Dinge. Es müsste wohl viel affektiver kommuniziert werden, sodass die Bedürfnisse der Körper direkt in den politischen Prozess eingespeist werden. Gut möglich, dass uns die Materie überrascht und nicht nur die Stromversorgung, sondern zum Beispiel auch ihren Kampfeinsatz bestreikt.
Vielleicht müssen wir uns Bennetts Politikmodell als Signal und Funk und Zauberkreis vorstellen, in dem wir Menschen nur noch eine kleine Rolle spielen – vielleicht als Störfeuer, das, wenn sich die Materie gnädig erweist, eines Tages ins „Parlament der Dinge“ (Bruno Latour) aufgenommen wird. •