Triage – Ungeimpfte depriorisieren?
Sollen geimpfte Patienten bei möglichen Triage-Entscheidungen ungeimpften vorgezogen werden? Angesichts einer drohenden Überlastung der Intensivstationen wird das derzeit diskutiert. Allerdings sprechen vor allem rechtsphilosophische Überlegungen dagegen.
Reichen Beatmungsplätze und medizinisches Personal auf den Intensivstationen nicht mehr aus, um alle schwer erkrankten Corona-Patienten zu versorgen, muss die sogenannte „Triage“ angewendet werden. Ärzte müssen dann unter Zeitdruck entscheiden, welche Patienten behandelt werden und welche nicht. Damit verbunden sind schwerwiegende Probleme, die nicht nur medizinische Fragen betreffen, sondern tief in ethische und juristische Grundsatzdebatten reichen.
Auch in Deutschland wurde bereits intensiv darüber diskutiert, wie knappe medizinische Ressourcen im Falle eines Massenandrangs gerecht zu verteilen sind. Die Antworten auf die Frage, welche Auswahlkriterien in einem solchen Fall angewendet werden sollen, gehen dabei auch bei Experten weit auseinander. Besonders kontrovers wird aktuell diskutiert, ob Ungeimpfte bei der Triage depriorisiert werden sollen. Befürworter dieser These haben sich bereits in einigen Beiträgen zu Wort gemeldet – so etwa die Verhaltensökonomen Armin Falk und Marcus Schreiber sowie (unter Vorbehalt) die Medizinethikerin Annette Dufner. Auch in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke wird vermehrt die Ansicht vertreten, dass der Impfstatus bei einer Entscheidung einbezogen werden sollte.
Verursachung als Depriorisierungsgrund?
Begründet wird diese Position mitunter damit, dass sich Ungeimpfte unkooperativ und unsolidarisch verhielten. Nicht nur sie selbst setzen sich einer größeren Gefahr aus, schwer an Covid-19 zu erkranken, sondern auch andere werden durch ihr Unterlassen einer Impfung stärker gefährdet. Ungeimpfte sind in besonderem Maße dafür verantwortlich, dass dringliche Operationen verschoben werden müssen und anderweitige Notfälle wie etwa Herzinfarkte nicht mehr adäquat behandelt werden können. Die Impfverweigerung bzw. Impfzögerlichkeit trägt nämlich erheblich zur Überlastung der Intensivstationen bei, die in letzter Konsequenz zu dilemmatischen Konfliktsituationen führt.
So richtig und verständlich diese Argumente auch sind, verkennen Sie jedoch die rechtsphilosophische Problematik, die mit einer Depriorisierung von Ungeimpften verbunden ist. Dies wird deutlich, wenn man die moralische Intuition, die dieser Auffassung zugrunde liegt, einer kritischen Prüfung unterzieht.
Stellen wir uns dafür folgendes Szenario vor: Auf einer Autobahn fährt ein Raser mit 180 Kilometern pro Stunde, obwohl eine erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 120 festgeschrieben ist. Durch seine Raserei verursacht er einen Unfall, bei dem nicht nur er, sondern auch vier weitere Personen lebensgefährlich verletzt werden. Unfallbedingt ist ein Stau entstanden, weshalb nicht ausreichend Rettungskräfte vor Ort sein können, um allen Schwerverletzten umgehend zu helfen. Zugegen sind vorerst zwei Ärzte, die jeweils nur eine Person behandeln können. Da die Zeit drängt, wird eine Triage notwendig, bei der entschieden werden muss, wessen Leben zu retten ist. Nun die brisante Frage: Soll der Raser als Verursacher des Unfalls bei der Auswahl depriorisiert werden? Immerhin hat er durch sein irrationales Verhalten nicht nur sich selbst, sondern auch andere in Lebensgefahr gebracht.
Medizinische Verteilungsgerechtigkeit
Eine solche Depriorisierung des Rasers aufgrund des Rechtsbruchs käme jedoch einer Sanktionierung gleich, die nicht im Zuständigkeitsbereich der Ärzte liegt. Die dafür erforderliche Autorität besitzt allein ein Gericht. Sollte der Raser ungeachtet seines mutmaßlichen Verschuldens gerettet werden, ist ein rechtsstaatliches Verfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen ihn einzuleiten. Dabei wäre gewissenhaft zu klären, aus welchen Motiven und unter welchen Umständen er die Straftat begangen hat. So ist nicht ausgeschlossen, dass bei ihm eine verminderte Schuldfähigkeit vorliegt. Seine Schuld schmälert jedenfalls nicht den Teilhabeanspruch auf eine medizinische Hilfsleistung im Konfliktfall. So ungerecht dies auf den ersten Blick für manche auch erscheinen mag: Das Prinzip der egalitären Basisgleichheit zählt zu den fundamentalen Grundsätzen einer modernen, humanen Rechtsordnung und ist zentraler Bestandteil des ärztlichen Ethos. Da jedes Leben gleich viel zählt, ist es Ärzten rechtlich freigestellt, welches Leben sie retten. Eine Vorverurteilung, die zu einer medizinischen Ungleichbehandlung führt, kann von ihnen daher nicht eingefordert werden.
Analog lässt sich dies auf die Depriorisierung von Ungeimpften bei der Triage übertragen: Die Tatsache, dass die Impfverweigerung andere Menschen fahrlässig in eine Gefährdungssituation bringen kann, begründet zwar präventiv strengere Infektionsschutzmaßnahmen für Ungeimpfte. Sie begründet aber keine Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften hinsichtlich der Frage, wer lebensrettend behandelt werden sollte. Die dafür gewählten Kriterien sollten nicht auf einem diffusen Gerechtigkeitsempfinden gründen, sondern müssen ethisch vertretbar und rechtskonform sein.
Entsprechend deutlich hat die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) nun in ihrer klinisch-ethischen Empfehlung klargestellt, dass Hilfspflichten im Gesundheitswesen unabhängig von der Verursachung und dem vorausgegangenen Verhalten des bedürftigen Patienten bestehen. Sollte ein ungeimpfter Patient aufgrund des mangelnden Impfschutzes eine vergleichsweise schlechte Erfolgsprognose aufweisen, ist er im Konfliktfall nicht wegen seines Impfstatus, sondern wegen der geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit zu depriorisieren. Der Impfstatus hat demnach allenfalls eine indirekte Bedeutung für die Triage-Entscheidung. Diese Unterscheidung mag spitzfindig klingen, hat jedoch weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit im medizinischen Kontext.
Die Rolle der Impfpflicht
Doch selbst wenn wir annähmen, dass das Verursacherprinzip bei Triage-Entscheidungen eine Rolle spielen sollte, gibt es hinsichtlich der Depriorisierung von Ungeimpften einen weiteren gewichtigen Einwand. Denn: Gemeinhin gilt, dass Sanktionen ohne ein Verbot bzw. eine Pflicht nicht zu rechtfertigen sind. Solange keine Impfpflicht besteht, ist es nicht verboten, sich selbst und andere im Rahmen der geltenden Gesetze und Verordnungen einem erhöhten Risiko auszusetzen. Ungeimpfte wegen ihres devianten Verhaltens bei einer Triage zu depriorisieren, ohne zuvor eine Impfpflicht auszusprechen, scheint daher inkohärent. Schließlich kann niemand für etwas zur Rechenschaft gezogen werden, was erlaubt ist.
Eine Impfpflicht wäre demnach eine notwendige Voraussetzung, um eine Ungleichbehandlung zwischen Geimpften und Ungeimpften zu legitimieren.
Doch Vorsicht: Notwendig bedeutet nicht hinreichend. Auch hier sollten wir uns vor einer verfrühten Schlussfolgerung hüten. Denn aus einer Impfpflicht lässt sich nicht einfach ableiten, dass eine Depriorisierung von Ungeimpften vertretbar wäre. Sie ist bloß eine Bedingung für deren Vertretbarkeit. Selbst unter Geltung der Impfpflicht und bei zusätzlicher Akzeptanz des Verursacherprinzips bliebe eine generelle Depriorisierung weiterhin problematisch. Dafür können unter anderem folgende Gründe angeführt werden:
• Die Verknappung intensivmedizinischer Ressourcen kann schwerlich einer einzelnen, ungeimpften Person zur Last gelegt werden. Eine kausale Zuschreibung ist nicht eindeutig.
• Dies gilt auch für das Maß der Zuschreibung: Die Fremd- und Eigengefährdung einer ungeimpften Person, die fahrlässig an Massenveranstaltungen teilnimmt, unterscheidet sich gravierend im Vergleich mit einer ungeimpften Person, die sich weitgehend isoliert.
• Manche Personen wurden durch gezielte und systematische Desinformation gegen das Impfen getäuscht und sind deshalb auch als Opfer zu betrachten. Andere stehen möglicherweise unter sozialem Druck, weil sie in einen Familienkontext eingebunden sind, der von radikaler Impfgegnerschaft oder weltanschaulichen Vorbehalten geprägt ist.
• Der sozioökonomische Status ist ein wesentlicher Faktor für die Impfbereitschaft. Menschen mit geringerem Einkommen oder niedrigerem Ausbildungsniveau lassen sich seltener impfen. Die Frage nach der Impfbereitschaft ist also nicht zuletzt auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.
• Einige Personen sind möglicherweise durch andere, psychopathologische Gründe vom Impfen abgehalten worden. Dazu zählen z.B. Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen.
Ein kritisch-rationaler Umgang mit der Triage-Debatte zeichnet sich vor allem durch intellektuelle Bescheidenheit aus. Diese wird momentan durch eine überzogene Emotionalisierung erschwert. Das Thema wird damit zum Tabu erklärt oder salopp mit moralistischen Scheingewissheiten abgehandelt. Dabei sollte eigentlich allen klar sein, dass es für dilemmatische Situationen keine Lösung gibt, die vollkommen zufriedenstellend wäre. Die existenzielle Bedeutung des Problems verlangt von uns, dass wir der Komplexität gerecht werden und Ambivalenzen anerkennen. Es kann nicht darum gehen, auf der „richtigen Seite“ zu stehen, sondern Fehler in unseren Überzeugungen ausfindig zu machen. Umso wichtiger ist eine Debatte, in der andere Ansichten nicht sofort verdammt werden.
Dies gilt ganz allgemein für unseren Umgang mit Andersdenkenden. Vor allem für Ungeimpfte sollte es keinen Gesichtsverlust darstellen, wenn sie ihre Haltung nun revidieren und sich vernünftigerweise für eine Impfung entscheiden. Der Wissenschaftsjournalist Florian Aigner bringt es auf den Punkt, wenn er jüngst bemerkte: „Wer jetzt beschließt, sich doch noch impfen zu lassen, soll nicht als Impfskeptiker kritisiert werden, der viel zu lange gewartet hat, sondern gefeiert werden als jemand, der das Richtige tut. Gratuliere und vielen Dank dafür!“ •
Florian Chefai ist wissenschaftlicher Koordinator am Hans-Albert-Institut. Seine Themenschwerpunkte liegen bei Fragen der Ethik, Rechtsphilosophie und Ideengeschichte.
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