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Interview

Umberto Eco im Gespräch: „Die Sprache ist eine permanente Revolution“

Martin Legros veröffentlicht am 24 Februar 2016 14 min

Seiner Herkunft nach Philosoph, wurde Umberto Eco als Romanautor und kosmopolitischer Essayist zu einer intellektuellen Legende. Die Leichtigkeit, mit der er alle Themen angeht, zeigt, dass Denken eine lustvolle Tätigkeit ist.

 

Umberto Eco war eine geheimnisumwitterte Figur. Wie ist aus diesem Kind einer einfachen Familie im Piemont der kosmopolitische Intellektuelle geworden, der er war? Als Enkel eines Druckers und Sohn eines Buchhalters verbrachte Eco den Krieg mit seiner Mutter in den Bergen, wo sich der Salesianerorden Don Bosco seiner annahm und in ihm die Liebe zu der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin wachrief. Wie ist aus dem Autor zweier erfolgreicher Mittelalterkrimis und ein paar ironischer Essays über den Zeitgeist ein Gelehrter geworden, der sich wie ein Magier von Peking über São Paulo nach Paris durch die Welt bewegte, um seine intelligente und vergnügte Meinung über den Triumphzug der Simulakren zum Besten zu geben, über den Niedergang des Buches, über Verschwörungstheorien – oder über Charlie Brown als „Moment des universellen Bewusstseins“? Um dieses Geheimnis zu lüften, haben wir uns mit ihm im Louvre getroffen, wo er 2012 auf Initiative des Instituts Transcultura eine Kommission von Künstlern, Architekten und Intellektuellen aus Europa und China versammelt hatte. Das Ziel? Die Einübung einer Art intellektueller Gymnastik, die seiner Meinung nach nötig ist, wenn es gelingen soll, in der großen Konfrontation zwischen den Kulturen, die sich vor unseren Augen abspielt, Orientierung zu finden. Das, was er „geistige Vielsprachigkeit“ nennt oder die Fähigkeit, nicht nur eine einzige Sprache zu sprechen, sondern die feinen und entscheidenden Unterschiede zwischen den Kulturen auszumessen.


Romanautor, Mittelalter-Historiker, Massenkultur-Kritiker, Semiotiker, Kolumnist ... Sie sind ein vielseitiger Intellektueller. Aber angefangen haben Sie mit der Philosophie. War das Ihre erste Berufung?

Man möchte immer mehrere Dinge im Leben machen. Mit drei Jahren wollte ich Zugführer werden. Meine Berufung ist am Gymnasium entstanden, wo ich einen wunderbaren Lehrer hatte. Ich hatte auch zwei ältere Freunde, die Philosophie studierten. Sie versuchten, mir zu zeigen, wie dumm ich war, und das weckte meinen Stolz! Trotzdem musste ich kämpfen, um Philosophie studieren zu dürfen. Mein Vater kam aus einer Familie mit 13 Kindern und wollte, dass ich Anwalt werde. Für ihn bedeutete ein Philosophiestudium, Hungerleider zu werden. Er sah mich schon, wie ich jeden Morgen um 5 Uhr den Zug nahm, um in irgendeinem abgelegenen Dorf im Piemont zu unterrichten. Aber am Ende habe ich ihn widerlegt ...

Welche Philosophen waren für Sie wichtig?

Der heilige Thomas, als Argumentationsmodell. Von seinen Thesen bleibt vielleicht nichts übrig, doch die Art, wie er seinen Gedanken ein System gab, ist fantastisch. An der Universität haben mich zwei Bücher geprägt: Lockes „Versuch über den menschlichen Verstand“ und Spinozas „Ethik“. Zwei gegensätzliche Strömungen der modernen Vernunft, Empirismus und Rationalismus ... Haben Sie es nie erlebt, sich in zwei völlig unterschiedliche Frauen zu verlieben? Kann man nicht die Kunstfertigkeit eines Boxers schätzen und gleichzeitig die einer Tänzerin?

Sie besitzen keine Scheu vor außerphilosophischen Bereichen: Sport, Comics, das Fernsehen ...

Descartes war Mathematiker, Pascal war Physiker, Leibniz Bibliothekar. Vor der Erfindung der Universität waren Philosophen Leute, die einem anderen Beruf nachgingen, als Geschichte der Philosophie zu unterrichten. Ich habe versucht, etwas von dieser Tradition zu bewahren.

Sie sind Spezialist für Semiotik – also Zeichentheorie. Wie würden Sie ein Zeichen definieren?

Dazu genügt Augustinus. Ein Zeichen ist etwas, das das, was in meinem Kopf war, in den Kopf anderer Menschen bringt. Diese wunderbare Definition braucht die Realität nicht, sie ist wahr, selbst wenn die Welt nicht existiert.

Und worin liegt die besondere Bedeutung der Semiotik für das heutige Denken?

Es ist die moderne Form der Philosophie. Die Semiotik ist die beste Art, mit jener Wendung umzugehen, die im Zentrum der Philosophie des 20. Jahrhunderts steht und die man „linguistic turn“ genannt hat. Um es mit einfachen Worten zu erklären: Wie ordne ich die Bedeutung „Glas“ dem Wort „Glas“ zu? Die analytischen Philosophen, die in der angelsächsischen Welt vorherrschen, haben darauf versucht zu antworten, indem sie die Sprache gesäubert haben: Sie sollte nur noch Begriffe enthalten, die exakt den äußeren Gegenständen oder Situationen entsprechen, die sie bezeichnen. Als ob Worte Etiketten wären. Die Semiotik geht das Problem anders an. Sie interessiert sich weniger für die Referenz zur externen Welt als vielmehr für den Prozess, der zu Bedeutung führt, semiotisch gesprochen den Prozess der Signifikation. Nehmen wir ein Einhorn. Ein analytischer Philosoph hätte überhaupt kein Interesse daran, über Einhörner nachzudenken: Es gibt sie nicht. Für einen Semiotiker hingegen haben Einhörner eine fundamentale Bedeutung, denn sie gehören zur Ausstattung unserer mentalen Welt. Die Tatsache, dass ich Einhörner denken kann, ebenso wie die Tatsache, dass ich Gott denken kann oder Harry Potter, stellt einen grundlegenden Aspekt unseres Geisteslebens, unserer Kultur, unserer Moral und Ethik dar, den man nicht eliminieren darf.

Sind wir also in der Sprache gefangen, ohne jemals direkten Zugang zur Wirklichkeit zu erlangen, wie Roland Barthes es dachte, dem Sie ja nahestanden?

Ich habe Barthes als Freund und Autor sehr geschätzt. Doch in seiner Rede am Collège de France hat er mit seiner Behauptung, dass die Sprache faschistisch sei, eine große Dummheit gesagt. Es sei denn, es handelt sich um ein faschistisches Regime, wo es sehr einfach ist, Revolutionen zu machen und in den Widerstand zu gehen. Die Sprache ist kein Käfig, sondern eine permanente Revolution.

Revolutionen interessieren Sie auch in der Kunst. In Ihrem Buch „Das offene Kunstwerk“ stellen Sie klassische Kunstwerke – die zusammengehalten werden von der Vorstellung der Perfektion und bestimmten Regeln unterliegen – modernen Werken gegenüber, wie denen von Mallarmé, Joyce oder Kafka, die auf Mehrdeutigkeit angelegt sind und sich für unendliche Interpretationen öffnen, aber dennoch nicht beliebig interpretierbar sein sollen.

Ich revidiere meine Haltung keineswegs. Doch wenn es vielfältige Interpretationen gibt, so nur, weil es Fakten, Ereignisse oder Werke gibt, die man versucht zu interpretieren. Das Faktische ist immer das, was ich den „harten Sockel des Seins“ nenne. Das ist keine metaphysische, sondern eine wissenschaftstheoretische These. Das ist das ureigenste Prinzip der Falsifikation im Sinne Karl Poppers. Thesen, die sinnvoll sein wollen, müssen auch durch Erfahrung widerlegt werden können. Man mag glauben, dass unser Leben eine Kette von Interpretationen ist, aber manchmal begegnen wir Interpretationen, die nicht funktionieren. Dazu kann ich eine Anekdote erzählen. Nach einem Abendessen bei Freunden in Paris schlägt Derrida – der Vorbeter der Dekonstruktivisten – vor, mich ins Hotel zu begleiten. Ich bitte ihn, mich am Carrefour de la Croix Rouge abzusetzen. Er setzt mich am Carrefour de la Croix Rouge ab. Das heißt, dass es ein „transzendentales Signifikat“ gibt und dass er selbst dies anerkennt. Derrida hat nie geleugnet, dass es Leitplanken für die Vielfalt der Interpretationen gibt. Es sind seine amerikanischen Anhänger, die sein Denken in einen Mythos verwandelt und die Unbestimmtheit der Bedeutung beschworen haben.

In „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“ haben Sie die Vielsprachigkeit, für die die Parabel vom Turmbau zu Babel steht, gegen den Mythos einer Ursprache der Menschheit verteidigt. Können Sie das näher erklären?

Die Sprache ist eine menschliche Anpassungsleistung an eine gegebene Situation, daher auch Epikurs Hypothese, dass die Sprache mehrfach entstanden ist und noch immer in verschiedenen Situationen entsteht, weshalb es verschiedene Sprachen gibt. Das ist die beste anthropologische Lösung für das Problem des Sprachursprungs. Chomsky zufolge gibt es Hirnstrukturen, die bei allen Sprachen gleich sind. Intuitiv wäre ich damit einverstanden, sonst könnte man nicht erklären, wie ein Kind von Geburt an beginnt, eine Sprache zu lernen. Chomskys einziger Fehler ist, dass er das ausgehend von einer bestimmten Sprache verallgemeinert, nämlich seiner eigenen. Er vertritt zum Beispiel die Auffassung, dass das Konzept des Malens immer mit dem Konzept eines Malens von außen verbunden ist. „I paint my house“ heißt, dass ich mein Haus von außen anstreiche. Das gilt vielleicht für Amerika, wo die meisten in einem Haus leben, aber nicht in Europa. Dort streicht man eher seine Wohnung: von innen ...

Es gibt also keine Universalien, die allen Sprachen gemeinsam wären?

Man hat versucht, welche zu finden. In vielen Sprachen hängt man, um einen Plural zu bilden, ein „s“ an. Im Italienischen ist das nicht der Fall. Ein Substantiv auf „o“ in der Einzahl endet im Plural auf „i“. Dazu hatte ich übrigens ein seltsames Erlebnis mit meinem Sohn. Als er klein war, verlangte er nach Bonbons und wir haben ihm geantwortet: „Solamente uno“ (nur eins). Aber da er mehrere wollte, antwortete er: „Gebt mir unos.“ Er hatte ein „s“ angehängt, um den Plural zu bilden. Woher er das hatte, ist ein Rätsel ... Jede Sprache gibt der Welt eine andere Form, aber es gibt bestimmte Maserungen des Universums, die man überall wiederfindet. Laut dem Linguistikprofessor Jacques Lérot existieren neutrale Phänomene wie „es regnet“, „es tut weh“ ebenso im Russischen wie im Englischen. Und dann gibt es existenzielle Universalien: Essen, Schlafen, Sich-Anziehen, Fallen, up, down. Bestimmte Kulturen siedeln das ewige Leben up an, andere down, aber up und down bleiben gleich. Daran passt sich jede Sprache an. Das ist wieder das, was ich den „harten Sockel des Seins“ nenne. Es gibt ein schönes Bild von John Wilkins ,Erfinder einer künstlichen Sprache im 17. Jahrhundert. Von ihm gibt es eine Zeichnung mit einem Kreis und eine Person, um die herum etwa 40 Begriffe angeordnet sind:„up“, „down“, „off“, „in“, selbst wenn Sie kein Englisch können, verstehen Sie, was die Entsprechungen dieser Begriffe sind: Es sind die 40 Positionen eines menschlichen Körpers im Universum. Sie konstituieren die universale Sprache des Körpers. „

Man könnte die gesamte Ethik neu schreiben, ausgehend vom Respekt für den Körper“, lautet eine Ihrer Thesen ...

In meinem Briefwechsel mit Kardinal Martini (1927-2012) fragte mich dieser, ob es möglich wäre, eine Ethik ohne Gott zu begründen. Ich antwortete ihm, dass es möglich sei, indem man die Ethik auf den Körper gründet. Der Körper hat das Bedürfnis, aufrecht zu stehen, zu schlafen, zu essen, zu trinken und so weiter. In dem Maße, wie man seine Bedürfnisse respektiert, hat man auch ethische Bedingungen. Wenn man jemanden an den Füßen aufhängt, ihn zwingt, am Boden zu liegen, und ihm nicht erlaubt aufzustehen, wenn man jemandem die Zunge abschneidet und nicht zu sprechen erlaubt, dann haben Sie eine Situation, die nicht ethisch ist. Die grundlegende Ethik gründet sich also auf die Bedürfnisse des Körpers. Wenn Sie dieser Ethik folgen, sind Sie ein perfekter Christ. 

Ausgewählte Werke

Das offene Kunstwerk (Suhrkamp, 1973)
Eco konstatiert, dass mit Mallarmé, Joyce und Kafka eine neue Art des Kunstwerks in Erscheinung tritt, dessen Ausdruck und Bedeutung jedes Mal erneut vom Leser gebildet werden. Hier fließen seine Diskussionen mit der Gruppe 63, einem Zusammenschluss von Künstlern und Intellektuellen, ein.

Über Gott und die Welt (Hanser, 1985)
Die Hyperrealität – die Fabrikation von Kopien und Simulakren (Scheinbilder des Realen) – hat unsere Welt überflutet. Mit dieser These spaziert der Semiotiker durch unsere Museen, Supermärkte und Straßen auf der Suche nach dem Zeitgeist.

Der Name der Rose (Hanser, 1982)
Mit diesem Buch erfindet Eco den Mittelalterkrimi. Der Mord an sieben Mönchen in einem italienischen Kloster des 14. Jahrhunderts mitten im Konflikt zwischen Franziskanern und päpstlicher Inquisition lässt den Philosophen Wilhelm von Ockham in die Rolle eines Sherlock Holmes schlüpfen und verleiht der rationalen Suche nach Zeichen der Wahrheit einen mysteriösen Charme.

Kant und das Schnabeltier (Hanser, 2000)
Wie hätte Immanuel Kant reagiert, wenn er auf dieses Tier gestoßen wäre, das erst nach seinem Tod entdeckt wurde und allen Klassifizierungsversuchen zu trotzen scheint? Eco versammelt in diesem Band Überlegungen zu jenen Prozessen, die uns die Dinge der Welt erkennen lassen und uns erlauben, ihnen eine Form zu geben.

Die Geschichte der Schönheit (Hanser, 2004)
In diesem reich illustrierten Band entdecken wir, dass wir, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte, zu Polytheisten der Schönheit geworden sind, die auf verschiedene Kanons gleichzeitig ansprechen können. Ergänzt wird das Buch durch eine nicht minder faszinierende „Geschichte der Hässlichkeit“ (Hanser, 2007).

Die große Zukunft des Buches (mit Jean-Claude Carrière, Hanser, 2010)
Eine Verteidigungsschrift für jenen Gegenstand, der Zugang zu Texten und/oder Bildern durch den Modus des Blätterns erlaubt. Elektronische Bücher stellen dieses Prinzip nicht infrage, mit einem entscheidenden Unterschied: Ihnen fehlt die Gegenständlichkeit des Papiers, sodass die Lebensdauer der Texte selbst nicht gesichert ist.

Nullnummer (Hanser, 2015)
Ecos letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman erzählt die Geschichte eines Journalisten und gescheiterten Schriftstellers und Philologen, der in ein politisches Machtspiel in einem korrupten System verwoben wird.

Sie haben auf das Paradox aufmerksam gemacht, dass die Schönheit aus dem Bereich der Kunst verschwindet, genau zu der Zeit, wo sie zu einer Obsession des Alltags wird ...

Die Moderne hat zunächst damit begonnen, Schönheit und Kunst gleichzusetzen. Für die Griechen war Schönheit die Sonne, die Welt; Kunst war es, Dinge gut zu machen. Die Griechen unterschieden nicht zwischen dem, was wir die schönen Künste nennen, und dem Handwerk, aber in unserer modernen Kultur haben wir Kunst und Schönheit gleichgesetzt. Dann konnten wir im Zuge verschiedener avantgardistischer Strömungen eine Trennung zwischen beiden beobachten. Früher war es möglich, sich in eine von Ingres gemalte Frau zu verlieben, weil sie schön war. Dagegen verliebt man sich nicht in eine von Picasso gemalte Frau. Nach dieser Trennung ist die Kunst ihrer Wege gegangen, und die Empfindung von Schönheit wurde zu einem freien Gas, das den Philosophen entfleucht ist und durch die Massenmedien in Beschlag genommen wurde. Trotzdem sollte man weiterhin über Schönheit nachdenken, auch unabhängig von Kunst. Denn man kann auf die Frage, was Schönheit ist, universelle Antworten geben. Ich denke, die beste Antwort ist die von Kant mit seiner Idee von materieller Interesselosigkeit an etwas, das man mit Wohlgefallen betrachtet. Nicole Kidmans Schönheit etwa hat nichts mit Ästhetik zu tun, weil Sie sie auf eine Art begehren, wie Sie die Mona Lisa nicht begehren. Schönheit besteht darin, beim Betrachten oder Hören von etwas Wohlgefallen zu empfinden, ohne dass man es besitzen will.

In der heutigen Kultur wird die Vorstellung der Apokalypse, wie es scheint, immer mächtiger – ist dies nicht ein Zeichen für eine Rückkehr des Mittelalters?

Das Mittelalter hat solch ein Geschichtsbild nie gehabt. Die Apokalypse war nicht das Ende der Welt, sie war ein Moment der Tragödie, das Amargeddon vor dem Jüngsten Gericht und dem Paradies. Da wir heute auf den Beistand der Erlösung verzichten müssen, hätten wir gute Gründe, skeptischer als im Mittelalter zu sein. Aber es ist nicht so sehr die Vorstellung einer Katastrophe, die uns umtreibt, als vielmehr ein wabernder Zweifel am Sinn der Geschichte. Die Geschichte ist ins Straucheln geraten. Wir schwanken ständig zwischen einer Vielzahl von Fort- und Rückschritten. Marconi erfand zum Ende des 19. Jahrhunderts die drahtlose Telegrafie. Doch als das Internetkabel zum ersten Mal auftauchte, ist das die Rückkehr zur drahtgebundenen Telegrafie. Und mit Wi-Fi und Mobiltelefonie schließlich bewegt man sich in einem deterritorialisierten Netz. Das Fernsehen hatte das Radio abgelöst, doch dann kommt der I-Pod und läutet die Rückkehr zum Radio ein. Wir wissen nie, ob der Schritt, den wir tun, wirklich ein Schritt nach vorn oder ein Schritt zurück ist.

Wir träumen also nicht mehr von Revolution, sondern von permanenter Destabilisierung ...

Schauen Sie sich die Piratenpartei an, Anonymous, Wikileaks. Sogar Terroristen sind heute keine Revolutionäre mehr, sondern Destabilisierer. Wir träumen also nicht mehr von Revolution, sondern von permanenter Destabilisierung ... Sogar Terroristen sind heute keine Revolutionäre mehr, sondern Destabilisierer.

Ihre Erfolgsromane „Der Name der Rose“ und „Das Foucaultsche Pendel“ beschäftigen sich mit Hermetik, der Zukunft des Buches, dem Glauben an die Wahrheit und so weiter. Wie kommt darin die Beziehung zwischen begrifflichem Denken und Fiktion zum Ausdruck?

Ich wollte in meinen Romanen nie etwas beweisen, ich habe sie aus reinem Vergnügen geschrieben. Ich habe immer geglaubt, dass das zwei verschiedene Dinge sind, das eine war der Papierkorb für das andere. Aber da ich nicht schizophren bin, passiert es von allein, dass ich, wenn ich eine Geschichte schreibe, auch meine Ideen zum Ausdruck bringe. Als Philosoph war es mir fast unmöglich, Geschichten zu erzählen, ohne dass sie Parabeln wurden. Doch das geschieht ohne mein Zutun, ohne dass ich es bemerke. Der Leser, der intelligenter ist als der Autor, stellt die Verbindungen her. Nachdem ich „Das Foucaultsche Pendel“ beendet hatte, habe ich, mich in die Rolle des Lesers versetzend, gedacht: Im Roman von diesem Schwachkopf gibt es einige interessante philosophische Gedanken dazu, wie in einer Welt, die auf dem Prinzip der Rationalität beruht, das Irrationale weiter existiert. Romane sind für mich ein Experimentierfeld. Ich kann eine Figur erfinden, und danach kommt mir die Idee, eine psychologische Abhandlung zu schreiben, aber ich gehe nicht von einer psychologischen Abhandlung aus, um eine Figur zu erfinden.

Sie kommen oft in den Louvre, wenn Sie in Paris sind. Was interessiert Sie an diesem Ort?

Die Werke! Aber ebenso das Verhalten der Besucher. Das einschneidendste Phänomen ist die Fotografie, die sich heute zwischen das Auge und die Werke stellt. Unser Auge hat seine Funktion verloren, die Wirklichkeit aufzunehmen. Nicht nur in der Kunst. Man versichert sich über einen Bildschirm der Wirklichkeit dessen, was man sieht. Ich fotografiere deshalb nicht mehr. Eines Tages bin ich von einer Besichtigungstour zurückgekommen, auf der ich eine Menge Fotos gemacht hatte. Als ich zurückkam, hatte ich lauter schlechte Fotos und wusste nicht mehr, was ich eigentlich gesehen hatte. Ich hab den Apparat weggeschmissen und beschlossen, nie wieder Fotos zu machen – das ist der einzige Weg, um die Dinge zu sehen und mich daran zu erinnern. Wenn ich eine materielle Spur bewahren möchte, kaufe ich eine Postkarte. Was ich auch etwas beunruhigend finde im Louvre, sind die Touristen, die alles sehen wollen. Ich bin der Auffassung, dass man ins Museum nur gehen sollte, um sich ein einziges Werk anzuschauen. Das Museum sollte sich alle sechs Monate neu strukturieren und ein einziges Werk ins Zentrum stellen. Der Rest des Museums sollte nur zur Vorbereitung und Information dienen für die letztendliche Betrachtung dieses Meisterwerks. Das ist schwierig, aber man hat das auch vor zehn Jahren in Brüssel mit Tizians Venus von Urbino gemacht in den Königlichen Museen der Schönen Künste.

Als europäischer Intellektueller, dem das Projekt Europa am Herzen liegt – wie erklären Sie sich, dass Europa im Prozess der Globalisierung ins Hintertreffen zu geraten droht?

Europa ist durch die Vielfalt der Sprachen bedroht. Aber es wird nichts nutzen, eine einzige Sprache zu übernehmen. Das Englisch, das die Europäer sprechen, hilft ihnen nicht, sich besser zu verstehen. Im Gegenteil, es schafft schreckliche Missverständnisse. Europa hat das Potenzial, sowohl linguistisch als auch geistig polyglott zu sein. Geistige Vielsprachigkeit besteht im Versuch zu verstehen, wie andere Kulturen denken. Auf diese Weise kann Europa zur Globalisierung beitragen.

Sie sagen, dass eine der Hauptfunktionen von Literatur sei, uns an den Gedanken der Irreversibilität zu gewöhnen. Gilt das nicht auch für die Philosophie?

Ich glaube, dass die Philosophie die schönste Art ist, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Man philosophiert, weil man sich mit dem Tod auseinandersetzen will.

Haben Sie sich zur Genüge mit dem Tod auseinandergesetzt?

Mehr oder weniger. Ich habe gewisse Ideale. Zum Beispiel Alfred Jarry: Als er im Sterben lag, fragte man ihn, ob er noch etwas brauche, er antwortete: „Einen Zahnstocher.“ Man bringt ihm einen und er stirbt. So möchte ich sterben. Hobbes ließ auf seinen Grabstein schreiben: „This is the philosopher’s stone.“ Ich habe verfügen lassen, dass man auf mein Grab den Schlusssatz von Campanellas „Sonnenstaat“ (1602) eingravieren lässt: „Warte, warte nur noch einen Augenblick! Unmöglich, unmöglich!“

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