Und was, wenn die Wunde niemals heilt?
Heute jährt sich der Todestag von Roger Willemsen zum 7. Mal, der seither schmerzlich vermisst wird. In diesem Dialog mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho sprach Willemsen 2015 über Narben, Falten, Schicksalsschläge und die Möglichkeit, sich die Welt wieder anzueignen.
Hotel Mandala am Potsdamer Platz Berlin. Roger Willemsen ist hier zu Gast, er befindet sich gerade auf Deutschlandtournee. Die Tür öffnet er in Socken und sieht noch ein bisschen verwuschelt aus, doch schnell sind er und Thomas Macho sich einig, dass man im Grunde nur so ernsthaft über die Krise sprechen könne. Was es bedeutet, in der Krise zu sein, wissen beide sehr genau, privat wie beruflich. Thomas Macho beschäftigt sich in seiner kulturwissenschaftlichen Forschung mit der Frage, wie wir uns wechselseitig von Schuld entbinden und den Blick wieder gen Zukunft richten können. Roger Willemsen hat einen großen Essay des beschädigten Lebens geschrieben: „Der Knacks“. Wie brüchig ist die menschliche Existenz? Und wie finden wir aus tiefster Verbitterung wieder hinaus? Durch Willenskraft – oder Gelassenheit? Keine leichten Fragen, denen sich die beiden Denker umso leidenschaftlicher widmen.
Philosophie Magazin: Herr Macho, Herr Willemsen, stellen Sie sich vor: Sie besuchen einen Freund, der von seiner Frau verlassen wurde, keinen Schritt mehr vor die Wohnungstür setzt, in einer tiefen Krise steckt … Was sagen Sie zu ihm? „Es wird alles wieder gut?“
Roger Willemsen: Nein, denn es wird ja nicht gut. Es gibt eine Äußerung des österreichischen Schriftstellers Alfred Kubin, an die ich oft denken muss. Gegenüber einem Freund, der an einer schweren Depression litt – es handelte sich um den Dichter Peter Scher –, meinte Kubin einmal in einem Brief lakonisch: „Objektiviere die Hölle.“ Das Versachlichen von dem, was bedrückend ist: Das wäre in dem Augenblick hilfreich, tröstlich. Man reduziert die Phantasmagorien auf die Sachverhalte. Gleichzeitig würde ich versuchen, den Blick der Frau auf den Mann zu übernehmen.
Thomas Macho: Der Begriff der Krise stammt ja ursprünglich aus der Medizin. Hippokrates hat ihn als Erster entwickelt und entfaltet. Die Krise ist der Höhepunkt eines Krankheitsprozesses, der bereits begonnen hat. Und in der Krise entscheidet sich die Wendung zum Guten oder zum Schlechten. Entweder man übersteht das Fieber und wird wieder gesund oder es wird schlimmer und man stirbt. Die Krise ist der Entscheidungspunkt im Rahmen einer Geschichte. Und insofern kann ich Ihrem Vorschlag, dass man die Geschichte Gegenstand werden lässt, nur zustimmen. Wobei es natürlich darauf ankommt, eine Art von Aufmerksamkeit zu entwickeln, die eben diese Versachlichung auch erlaubt.
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Kommentare
Ich schätze, wenn man sich in einem Moment als Selbst und alles betrachtet, ist eine Wunde, die niemals heilt, wohl oft eher ein Schaden und Verlust. Vorher war man in der Erinnerung mehr ganz.
Wenn man sich in anderen Momenten als Teil von Gesellschaften wie einer Liebesbeziehung oder der Welt betrachtet, kann man vielleicht sehen, dass eine Wunde, die niemals heilt, vielleicht dafür sorgen, dass jene Gesellschaften ihren Umgang mit jener Art von "Wunden" verbessern. Eine frühe Krankheit ist tragisch, ja, aber sie erinnert Gesellschaften vielleicht an jene Krankheit und ihr davor und danach.
Abstrahiert stelle ich mir vor: eine "bindende" Aktivität zu erfahren ist tragisch, ja, aber sie erinnert Gesellschaften vielleicht an jene bindende Aktivität und ihr davor und danach.
Wendet man sich solcher wahrscheinlich bindender Aktivität zu, mit dem Ansinnen, zu versuchen zu befreien, dann lernt man vielleicht auch nebenbei viel für die eigene Befreiung, dann können vielleicht nebenbei auch manche eigene "Wunden, die niemals heilen", heilen.
Angewendet: Wenn aus Deutschland Befreiung für die Armeen an der Front in der Ukraine kommen würde, könnte das nebenbei auch achtzig Jahre alte Wunden "die niemals heilen" vielleicht weiter heilen.
Ich danke für die Möglichkeit zu kommentieren.
Antwort auf Ich schätze, wenn man sich… von armin.schmidt
Mein Kommentar schien mir verbesserungswürdig, daher hier eine überarbeitete Version.
Ich schätze, wenn man sich in einem Moment als Selbst und alles betrachtet, ist eine Wunde, die niemals heilt, wohl oft eher ein Schaden und Verlust. Vorher war man in der Erinnerung mehr ganz.
Wenn man sich in anderen Momenten als Teil von Gesellschaften wie einer Liebesbeziehung oder der Welt betrachtet, kann man vielleicht sehen, dass eine Wunde, die niemals heilt, vielleicht einen Effekt hat, dass jene Gesellschaften ihren Umgang mit jener Art von "Wunden" verbessern. Eine frühe Krankheit ist tragisch, ja, aber sie erinnert Gesellschaften vielleicht an jene Krankheit und ihr drumherum.
Abstrahiert stelle ich mir vor: einen unerträglich "bindenden" Prozess, manchmal eine Aktivität zu erfahren ist tragisch, ja, aber er erinnert Gesellschaften vielleicht an jenen unerträglich bindenden Prozess und sein davor und danach.
Wendet man sich einem solchen wahrgenommen unerträglich bindenden Prozess zu, mit dem Ansinnen, zu versuchen, die davon Gebundenen zu befreien, dann lernt man vielleicht auch nebenbei viel für die eigene Befreiung, dann können vielleicht nebenbei auch manche eigene "Wunden, die niemals heilen", heilen in dem Sinne, dass sie erträglicher werden.
Aktuell angewendet: Wenn aus Deutschland konstruktiver Beitrag für Befreiung für die Armeen an der Front in der Ukraine kommen würde, könnte das nebenbei auch achtzig Jahre alte Wunden "die niemals heilen" vielleicht weiter heilen.
Ich danke für die Möglichkeit, meinen Kommentar zu kommentieren.