Vier Hoffnungstypen
Typ Optimist
Existenzielle Zuversicht
Es gibt Menschen, die zweifelnd, gar furchtsam in die Zukunft blicken und, auch wenn das Eintreffen eines Ereignisses wahrscheinlich ist, immer vom Schlimmsten ausgehen. Menschen, die Entscheidungen scheuen und herauszögern, weil man sich auch falsch entscheiden kann. Die Risiken erst einmal ganz genau berechnen, bevor sie zur Tat schreiten – und dann im Zweifelsfall lieber doch nicht handeln, weil ein einziger Fehltritt ausreicht, um sich das Leben für immer zu vermasseln.
Zu diesen Menschen gehören Sie ausdrücklich nicht. Sie haben ein sonniges Gemüt, stehen der Welt emotional grundsätzlich positiv gegenüber und gehen, ob in der Liebe oder beruflich, hoffnungsfroh durchs Leben; so, als wäre das Schicksal Ihnen (warum auch immer!) wohlgesonnen. „Was sollen wir tun? Stark und guten Mutes sein! Zum besten handeln, das Beste hoffen und nehmen was kommt ...“ Diese Sätze des US-amerikanischen Philosophen William James sind Ihr Lebensmotto.
Sie glauben an sich und daran, dass das, was Sie tun, im wahrsten Sinn des Wortes glücken wird; eingedenk aller Unwägbarkeiten und Gefahren, die Sie durchaus sehen. Sie sind kein Traumtänzer, der sich in abwegige Erwartungen versteigt. Vielmehr machen Sie immer wieder die Erfahrung, dass Ihr tiefes Vertrauen in sich selbst und die Welt Ihnen eine Kraft verleiht, die das Gelingen nicht nur wahrscheinlicher macht, sondern Ihr Handeln überhaupt erst in Gang setzt und leitet. Was natürlich nicht heißt, dass alles, was Sie anfassen, von Erfolg gekrönt wäre. Enttäuschungen machen Ihnen den unverfügbaren Grund Ihres Hoffens durchaus bewusst, manchmal auch äußerst schmerzlich.
Zum Weiterlesen: William James: „Der Wille zum Glauben“, übers. v. Theodor Lorenz, in: Ekkehard Martens (Hg.): „Philosophie des Pragmatismus“, Reclam, 2002
Typ Traumtänzer
Illusionäre Annahme
Sie starten hochmotiviert in Ihre Projekte, werfen sich mit größten Erwartungen in neue Beziehungen, scheuen keine Herausforderung. Doch würde Ihnen mehr Bodenhaftung gut tun. Anders ausgedrückt: Die optimistische Zukunftserwartung, die Sie hegen, ist durch die Wirklichkeit nicht gedeckt. Was Ihnen fehlt, ist der Zweifel, und ja, auch etwas mehr Furcht – und wer wüsste das besser als der Chef-Skeptiker René Descartes. „Die Hoffnung ist eine Veranlassung der Seele, sich zu überreden, daß das, was sie begehrt, eintreffen wird“, so Descartes im 17. Jahrhundert. „Die Furcht aber ist eine solche Veranlagung der Seele, welche sie überredet, daß so etwas nicht eintrifft. Es muss aber sogleich bemerkt werden, daß man sie nichtsdestoweniger zugleich haben kann, obgleich diese beiden Leidenschaften entgegengesetzt sind. So wenn man sich zur gleichen Zeit verschiedene Gründe vorstellt, von denen die einen zu dem Urteil verleiten, die Erfüllung des Verlangens sei leicht, während die anderen dies schwer erscheinen lassen.“ Die Furcht ist, so gesehen, ein gesundes Korrektiv der leeren Hoffnung. Nur wenn beides, Zuversicht und Zweifel, sich in produktiver Spannung befinden, entsteht Realitätssinn.
Zum Weiterlesen: René Descartes: „Die Leidenschaften der Seele“, hg. v. Klaus Hammacher, Felix Meiner, 1984
Typ Stochastiker
Rationale Voraussicht
Die guten Inzidenzwerte der letzten Wochen lassen auch Sie durchaus optimistisch in die Zukunft blicken: Als Anhänger rational begründbarer Wahrscheinlichkeit akzeptieren Sie nämlich einzig Zahlen und eine gute Datenbasis als Grundlage des Hoffens. Modellrechnungen, die den Zufall in die Kalkulation einbeziehen, um möglichst exakte Prognosen aufzustellen, studieren Sie sehr genau und mit tiefem Interesse. Natürlich wissen Sie, dass Modelle nie die Wirklichkeit abbilden; und doch, was sollte im 21. Jahrhundert Grundlage unseres Zukunftsbezugs sein, wenn nicht die Stochastik, zu Deutsch: „Kunst des Vermutens“, die der französische Philosoph Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert anhand des Glücksspiels entwickelte?
So errechnete Pascal beispielsweise für einen Freund die Wahrscheinlichkeit, bei einer Wette zu gewinnen: Wenn er vier Mal würfelt, ist es dann eher wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, dass er mindestens einmal eine Sechs würfeln würde? Unser heutiges Versicherungs- und Kreditwesen, Risikoanalysen, selbst Wettervorhersagen gehen im Kern auf Pascal und dessen Briefwechsel mit Pierre de Fermat zurück; ein Dokument, das bis heute als Urtext der Wahrscheinlichkeitstheorie gilt. Und so sind auch Sie überzeugt: Wer haltlos spekuliert oder grundlos auf sein Glück vertraut, wird im Spiel so wenig Erfolg haben wie in der Liebe. Man mag andere Weltzugänge romantischer finden. Vor Tragik aber schützt sich nur, wer das Erwartbare kennt.
Zum Weiterlesen: Pierre de Fermat/Blaise Pascal: „Briefwechsel zum Teilungsproblem“, in: Ivo Schneider (Hg.): „Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie von den Anfängen bis 1933“, WBG, 1988
Typ Anführer
Radikale Hoffnung
Verzweiflung und größte Not kennen Sie gut. Oft haben Sie sich in Situationen wiedergefunden, in denen Sie nicht wussten, wie es weitergehen soll, ja, ob es überhaupt ein „Danach“ gibt. Die Zukunft: ein schwarzes Loch. Doch trotz dieser bedrohlichen, ja beinah tödlichen Ohnmachtserfahrungen hat Sie etwas in dieser Welt gehalten – und Sie wie von Geisterhand so vernünftig handeln lassen, dass Sie einen vollkommen unwahrscheinlichen Weg gefunden haben: einen Weg hinein in eine neue Zeit, ein neues Leben. Diese Fähigkeit, in totaler Ausweglosigkeit einen rettenden Anker in die ungewisse Zukunft zu werfen, beschreibt der Philosoph Jonathan Lear als „radikale Hoffnung“: Radikale Hoffnung „besteht in der Hoffnung darauf, dass etwas Gutes hervortreten wird, selbst wenn man gegenwärtig noch nicht über die Begriffe verfügt, mittels derer man sich dieses Gute verständlich machen kann.“
Als Beispiel dient Lear der Häuptling der Crow-Indianer Plenty Coups, der mit seinem Stamm unterzugehen drohte und aus seinen Träumen und den spirituellen Quellen seiner Kultur die richtige Handlungsweise herauslas. So gelang es ihm, sein Volk in eine Zukunft hineinzuführen, in der die Traditionen des Stammes unter veränderten Lebensbedingungen eine neue Form finden konnten. Radikale Hoffnung ist kein bloßes Wunschdenken. Vielmehr setzt sie voraus, „ein gutes Urteilsvermögen auszubilden und Entscheidungen für das eigene Handeln zu treffen, die auf Wissen fußen.“ Auch Sie verfügen über diese Fähigkeiten: Sie sind kein Traumtänzer, sondern ein Traumdeuter, in dem Führungsqualitäten schlummern.
Zum Weiterlesen: Jonathan Lear: „Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“,
übers. v. Jens Pier, Suhrkamp, 2020
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