Was heißt hier frei
Seit jeher haben Menschen mit all ihren Kräften für die Freiheit gekämpft. Doch was dieser schillernde Begriff meint, ist umstritten. Philosophische Positionen zu drei Kernkonflikten.
Verzichten im Dienst der Zukunft?
Hans Jonas
(1903 – 1993)
Ja, denn es ist unsere Pflicht, das Fortbestehen der Menschheit zu ermöglichen. „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ So lautet Jonas’ grundlegender moralischer Imperativ. Und das bedeutet im Zweifelsfall, auf gegenwärtige Freiheiten zu verzichten: den Flieger nicht zu nehmen, die Kreuzfahrt ausfallen zu lassen, das Atomkraftwerk nicht zu bauen. Doch warum sollten wir unseren Möglichkeitsspielraum zugunsten künftiger Generationen einschränken, wo diese doch offensichtlich nicht da sind und nichts von uns fordern können? Für Jonas besteht die Pflicht zur Zukunftssicherung aufgrund seiner metaphysischen Sichtweise: Alle Organismen streben nach ihrer Selbsterhaltung. Hierdurch zeige sich in der Natur, dass „Sein“ absolut besser ist als „Nichtsein“. In Bezug auf die Menschheit kommt hinzu, dass Menschen die einzigen Wesen sind, die für ihr Handeln Verantwortung übernehmen können und sollen. Mit dem Fortbestand der Menschheit steht damit die Möglichkeit von verantwortlichem Handeln überhaupt auf dem Spiel.
Im Zeitalter der Technik ist das zukünftige Überleben aufs Äußerte gefährdet: Infolge technischer Innovationen verfügen wir über nie gekannte Möglichkeiten zur Manipulation der Natur – Möglichkeiten mit globalen und zeitlich weitreichenden Folgen. Angesichts dieser Macht steigert sich auch die Verantwortung massiv. Die kategorische Pflicht zur Bewahrung des Lebens fordert größte Vorsicht: Jonas zufolge sollten wir unsere Entscheidungen immer am schlechtestmöglichen Zukunftsszenario ausrichten und auf alle riskanten Manöver verzichten. Er fordert eine radikale Selbstbeschränkung in Sachen Konsum und Produktion, aber auch in der wissenschaftlichen Forschung und der technologischen Entwicklung. Jonas favorisierte einen freiwilligen Verzicht, schloss aber im Notfall auch die Suspendierung der Demokratie nicht aus.
Max Horkheimer
(1895 – 1973)
Theodor W. Adorno
(1903 – 1969)
Nein, die Verzichtlogik liegt im Herzen des Kapitalismus. Von klein auf werden wir dazu erzogen, auf Glücksmöglichkeiten zu verzichten und an die Zukunft zu denken: Rentenbeiträge einzahlen statt nach Selbstverwirklichung zu streben, an den nächsten Arbeitstag denken statt sich in der rauschhaften Feier zu verlieren. Das „Opfer des Augenblicks an die Zukunft“ ist den Autoren zufolge das Grundschema der genussfeindlichen kapitalistischen Gesellschaft. Dies veranschaulichen sie an einem der Grundtexte der abendländischen Zivilisation, der Odyssee. Der Held Odysseus entwickelt im Laufe seiner Abenteuer ein Planungsvermögen, das den jeweils möglichen Genuss im Dienste der künftigen Heimkehr nach Ithaka zurückstellt: „Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion, und wenn er durch die Meerenge steuert, muss er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt.“ Als Odysseus den verlockenden Gesang der Sirenen hört, lässt er sich an den Mast binden und den Gefährten die Ohren mit Wachs verstopfen. Ähnlich funktioniert die kapitalistische Arbeitswelt: Die Menschen stellen ihre gegenwärtigen Bedürfnisse zurück, arbeiten diszipliniert und sparen für ein mögliches Glück in der Zukunft. So ehrenwert man diejenigen finden mag, die sich nun für die Klimarettung in Verzicht üben wollen – es ist doch daran zu erinnern, dass die Entsagung eine menschenfeindliche Eigendynamik entfalten kann. Dies zeigt sich etwa in der Forderung, dem Klima zuliebe keine Kinder mehr zu bekommen. Auch ist daran zu erinnern, dass Industrialisierung und Umweltzerstörung nicht das Werk von in den Tag hinein lebenden Hedonisten waren, sondern von selbstdisziplinierten Asketen.
Macht Sicherheit uns freier?
Arnold Gehlen
(1904 – 1976)
Ja, denn ohne Sicherheit spendende Institutionen würden wir unser Leben in ständiger Überforderung führen. Als Menschen, so der Anthropologe Arnold Gehlen, haben wir ein Problem: Wir sind „Mängelwesen“. Im Gegensatz zu anderen Tieren sind wir organisch nicht an eine bestimmte Umwelt angepasst und in unserem Verhalten nicht durch Instinkte geleitet. Weder sind wir mit Flügeln und Federn an die Lüfte angepasst noch haben wir einen instinktiven Paarungsdrang. Im Naturzustand würden wir heimat- und orientierungslos durch die Welt irren und uns selbst und anderen das Leben zur Hölle machen. Aufgrund unserer Mangelhaftigkeit kann es Freiheit für uns nur durch starke Institutionen geben, die für Sicherheit sorgen: Einrichtungen wie der Staat, das Recht, die Kirche, die Ehe, die Schule oder der Arbeitsbetrieb bilden „dauernde und stationäre, den einzelnen Menschen übergreifende Gefüge“. Sie geben durch ihre Normen Halt und leiten das Verhalten der Menschen in vorhersehbare Bahnen. Von vielen werden Institutionen gerade deshalb als freiheitsbeschränkend wahrgenommen – doch Gehlen zufolge sind die Institutionen in Wahrheit die Voraussetzung der Freiheit, denn sie entlasten von Entscheidungen und Reflexionen. So hat etwa derjenige, dessen Privatleben durch Ehe und Familie strukturiert ist, mehr Spielraum, sich zu entfalten. Auch bietet erst die Institution der Universität mit ihrem Wissenschaftsbetrieb dem einzelnen Forscher die Möglichkeiten einer spezialisierten und komplexen Forschung. Die Zerstörung der Institutionen würde die Menschen hingegen nicht in eine lebensfrohe Spontaneität führen, sondern auf eine „schreckliche Natürlichkeit“ zurückwerfen, in der das Leben von blanken Notwendigkeiten und ständiger Überforderung geprägt wäre. So resümiert Gehlen: „Die Institutionen sind die großen bewahrenden und verzehrenden, uns weit überdauernden Ordnungen und Verhängnisse, in die die Menschen sich sehenden Auges hineinbegeben, mit einer für den, der wagt, vielleicht höheren Art von Freiheit als der, die in ,Selbstbestätigung‘ bestünde.“
Michel Foucault
(1926 – 1984)
Nein, denn in den sicherheitsbetonten modernen Gesellschaften verinnerlichen die Menschen zunehmend äußere Zwänge. In den westlichen Gesellschaften gibt es heute so viel Sicherheit wie noch nie: Ob am Flughafen, am Arbeitsplatz oder in der Arztpraxis: Allerorten wird überwacht, kontrolliert, geregelt, nachverfolgt, gewarnt und nötigenfalls eingeschritten.
Für Michel Foucault ist denn auch das „Panopticon“ das Modell der modernen Gesellschaft. Es handelt sich um den Entwurf eines kreisförmigen Gefängnisses, in dessen Mitte sich ein Überwachungsturm befindet, von dem aus sämtliche Zellen einsichtig sind. Die Insassen können sich gegenseitig nicht sehen. Die Individuen werden also isoliert und fühlen sich permanent überwacht. Dieses Modell wiederholt sich Foucault zufolge in zahlreichen Institutionen, etwa in Schulen, Krankenhäusern und Psychiatrien. „Schulen haben die gleichen sozialen Funktionen wie Gefängnisse und Irrenhäuser – sie definieren, klassifizieren, verwalten und regulieren Menschen.“ Während in vormodernen Gesellschaften Macht oft durch mehr oder minder rohe Gewalt ausgeübt wird, werden die Menschen nun durch Beobachtung und Verhaltenskorrektur diszipliniert. Diese Machttechniken werden mit der Zeit immer feiner und unsichtbarer – heute werden wir etwa mittels „Nudging“ auf sanfte Weise dazu angeleitet, weniger zu rauchen oder gesünder zu essen. Die moderne Entwicklung, in der die Sicherheit steigt und die physische Gewalt abnimmt, gibt sich den Anschein einer menschenfreundlichen Liberalisierung. Doch dies, so Foucault, verdeckt die Kehrseite: Gesellschaftliche Zwänge verschwinden nämlich keineswegs, sondern werden vielmehr immer stärker verinnerlicht. Zwar können wir uns heute überall sicher fühlen, aber um den Preis einer sozialen Konformität, die mit Freiheit wenig zu tun hat.
Ist die Freiheit aller wichtiger als die des Einzelnen?
Judith Shklar
(1928 – 1992)
Ja, weil die Freiheit von Furcht und Grausamkeit allen Menschen ein Grundbedürfnis ist. Was ist für uns als Menschen
wesentlicher: die Möglichkeit zur individuellen Selbstverwirklichung und zur Steigerung des Lebensstandards? Oder die Freiheit von Furcht und Grausamkeit? Für Judith Shklar ist die Antwort eindeutig die letztere. Angst, Verletzung und Beschämung sind für sie die größten Widersacher der Freiheit. Im Verlauf der Geschichte hatte stets eine Masse machtloser Menschen unter ihnen zu leiden. Shklar selbst musste 1939 mit ihrer jüdischen Familie aus Riga in die USA fliehen. Wer politisch verfolgt wird, hungern muss oder gar gefoltert wird, wird schlimmstenfalls zum bloß noch reagierenden Wesen, ohne jede Freiheit. Das oberste Ziel des „Liberalismus der Furcht“ ist deshalb die Vermeidung und Verminderung dieser Übel: Die „Freiheit, die dieser Liberalismus sichern will, ist die Freiheit von Machtmissbrauch und der Einschüchterung Wehrloser“. Demgegenüber ist die Sicherung eines hohen Lebensstandards Einzelner zweitrangig. Während aus Sicht anderer Liberaler der Schutz der Freiheit des Individuums und insbesondere sein Recht auf Privateigentum im Vordergrund stehen, geht es Shklar darum, die Schwachen vor der Gewalt von Regierungen und Wirtschaftsunternehmen zu bewahren. Um den Machtmissbrauch zu verhindern, sind institutionelle Vorkehrungen wesentlich – unter anderem Rechtsstaat, Demokratie, Gewaltenteilung sowie soziale Sicherungssysteme und Arbeitsverhältnisse, die den Lebensunterhalt sichern. Da Shklar im Streben nach Freiheit von Furcht eine anthropologische Grundbedingung sieht, haben ihre Überlegungen eine universelle Perspektive: „Es war einst das Merkmal des Liberalismus, kosmopolitisch zu sein und die Verletzung von Leben und Freiheit jedweder Rasse oder Gruppe überall auf der Erde zu seiner ureigenen Angelegenheit zu erheben. Es ist ein empörendes Paradox, dass gerade der Erfolg des Liberalismus in manchen Ländern das politische Einfühlungsvermögen seiner Bürger hat verkümmern lassen.“
Friedrich Nietzsche
(1844 –1900)
Nein, der Versuch, die Freiheit aller zu sichern, führt in die Mittelmäßigkeit. Hat die liberale Demokratie mit ihrem Ideal gleicher Rechte dafür gesorgt, dass wir alle frei sind? Keineswegs, so die Überzeugung Nietzsches. In einem Vergleich mit der antiken Sklavengesellschaft stellt er fest, dass die Abschaffung der Sklaverei in der Moderne – die Freiheit für alle – in Wirklichkeit dazu geführt hat, dass nun alle Menschen ein sklavenhaftes Dasein führen: „Ein Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann und dem die Muße fehlt – das gilt unserm Auge noch keineswegs als etwas Verächtliches; es ist von derlei Sklavenhaftem vielleicht zu viel an jedem von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Tätigkeit, welche grundverschieden von denen der Alten sind.“ In der modernen Massengesellschaft wird zwar niemand mehr im buchstäblichen Sinn versklavt, dafür gehen beinahe alle der zum höchsten Gut erklärten Lohnarbeit nach und beugen sich den Werten der Gleichheit und der mitleidvollen Rücksichtnahme. Demgegenüber ersehnt Nietzsche die schöpferische Selbstverwirklichung eines „freien Geistes“. Eine Persönlichkeit, die sich von den Gewohnheiten und Idealen des Milieus, der Tradition und des Zeitgeistes löst und eigene, lebensbejahende Werte entwickelt. Die ideale Gesellschaft, so Nietzsche, wäre nicht auf einen Kompromiss hin eingerichtet, demgemäß alle einigermaßen frei leben können. Vielmehr würde sie die Entstehung einzelner freier Geister, höherer Menschen, ja letztlich „Übermenschen“ befördern. Wie genau eine solche gesellschaftliche Ordnung aussehen würde, bleibt bei Nietzsche offen. Er macht allerdings deutlich, wie sie nicht aussehen würde: Keinesfalls geht es um eine speichelleckerische Unterordnung „gewöhnlicher“ Menschen unter konstitutionell höhere. Ein „freier Geist“ nämlich entwickelt sich nur im Kampf gegen äußere und innere Widerstände. •
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