Was ist guter Schlaf, Frau Schroder?
Nein, die Stunden vor Mitternacht zählen nicht doppelt. Die Psychiaterin Carmen Schroder erläutert im Interview, warum wir unseren individuellen Schlafrhythmus respektieren sollten, wenn wir als Gesellschaft ausgeruhter aufwachen wollen.
Frau Schroder, welche Mythen über den Schlaf müssen dekonstruiert werden?
Der am weitesten verbreitete Mythos ist der, dass die Stunden vor Mitternacht doppelt gezählt werden: Das ist natürlich falsch! Er rührt daher, dass die ersten Stunden des Schlafs die erholsamsten und für das Gedächtnis entscheidend sind. Wenn Sie aber als Abendmensch um 2 Uhr morgens ins Bett gehen, sind die erholsamsten Stunden einfach die zwischen 2 und 5 Uhr. Es kommt nur darauf an, wann Sie normalerweise ins Bett gehen. Ein weiterer Mythos, den es zu entkräften gilt, ist die Vorstellung, dass in Sachen Schlaf gleiche Regeln für alle gelten: „früh zu Bett gehen“, „mindestens sieben Stunden schlafen“ usw. Im Gegensatz zu diesem Irrglauben wäre es besser, einen individualisierten Ansatz zu bevorzugen. Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus (Tageszeiten, Schlafdauer) und sollte ihn kennen und so weit wie möglich respektieren.
Wie lernt man seinen eigenen Rhythmus kennen und respektieren?
Warten Sie den Urlaub ab – und nicht ein Wochenende, an dem man oft Schlaf nachholen muss –, um zu sehen, wann und wie lange Sie schlafen. Dieser Rhythmus ist oft recht stabil. Wenn man ihn länger als zwei Wochen nicht einhält, kann es zu verschiedenen Problemen wie Aufmerksamkeits-, Gefühls- und Wachsamkeitsstörungen kommen. Leider ist es nicht immer möglich, den eigenen Schlafrhythmus einzuhalten; das hängt unter anderem von Ihrem Beruf oder den Schulzeiten für Jugendliche ab. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, dass es unsinnig ist, die meisten Schüler um 8 Uhr morgens beginnen zu lassen, da es sich um eine Bevölkerungsgruppe handelt, die im Alter von 10 bis 20 Jahren ist und deshalb dazu tendiert, Abendmenschen zu sein. Es gibt zwar soziale und generationsbedingte Faktoren, die das Zubettgehen verzögern – „Teenager verbringen ihre Zeit am Bildschirm“, heißt es –, aber das Problem ergibt sich vor allem aus biologischen Faktoren. Gemeinsam mit dem französischen Bildungsministerium unterstützen wir das Projekt von einigen Schulen mit späterem Unterrichtsbeginn, um die Vorteile für die Schüler zu messen. Auf internationaler Ebene, wo ähnliche Experimente durchgeführt wurden, konnte ein deutlicher Rückgang von Fehlstunden, depressiven Symptomen und Schulabbrüchen beobachtet werden.
Gibt es erholsamere Schlafphasen? Und ist das von Person zu Person unterschiedlich?
Der Schlaf ist bei jedem Menschen auf die gleiche Weise organisiert, nämlich in einer Abfolge von Zyklen. Warum gibt es diese Zyklen? Weil wir nicht immer in verschlossenen Häusern geschlafen haben. Der Urmensch, der sich vor Raubtieren schützen musste, konnte nicht das Risiko eingehen, sechs Stunden lang tief und fest zu schlafen. Der Schlaf lief in Zyklen ab, die regelmäßigen Leichtschlafphasen erlaubten es, zu überprüfen, ob man in Sicherheit ist. Aus diesem Grund sind wir auch heute noch in manchen Momenten dem Bewusstsein und dem Aufwachen näher, während wir in anderen Momenten tief und fest schlafen. Der Schlaf gliedert sich in drei große Wachheitszustände: den leichten langsamen Schlaf (der Moment, in dem wir einschlafen), auf den der tiefe Langschlaf folgt, und schließlich den REM-Schlaf, der oft auch als „Traumschlaf“ bezeichnet wird. Jedes Stadium hat seine eigene Funktion: Im Langschlaf wird vor allem das episodische Gedächtnis gefestigt, während im REM-Schlaf eher die emotionale Verfassung (das am Vortag Erlebte, das möglicherweise traumatisch war) und das prozedurale Lernen (Sport treiben, ein Instrument spielen usw.) bearbeitet werden. Zu beachten ist, dass Babys, die lernen müssen, ihre Bewegungen zu koordinieren, einen viel längeren REM-Schlaf haben als Erwachsene.
Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens mit Schlafen. Warum schlafen wir so viel?
Der Schlaf spielt eine entscheidende Rolle für das reibungslose Funktionieren des Körpers. Neben dem Erinnern und der Verarbeitung von Emotionen und Taten ermöglicht er die Beseitigung von neuronalem Müll. Außerdem wurde vor kurzem entdeckt – aber bislang nur bei Tieren nachgewiesen –, dass wir nachts kleine Defekte in der DNA reparieren können. Wissenschaftler erklären das so: Tagsüber, wenn wir die Gene „lesen“, schleichen sich manchmal Fehler ein, wie bei jemandem, der die Typografie in einer Zeitung korrigiert und dabei einen Druckfehler übersieht. Nachts kommen wir auf diese Fehler zurück, um sie zu korrigieren. Daraus ergibt sich, dass ein guter Schlaf möglicherweise die Langlebigkeit fördert. Das ist eine spannende Hypothese, die allerdings noch am Menschen bewiesen werden muss.
Hat sich unsere Wahrnehmung des Schlafs historisch verändert?
Ja, sehr. Vor der Erfindung der Elektrizität nutzte der Mensch die helle, wärmere Jahreszeit, um aktiv zu sein, und ruhte sich in der dunklen, kälteren Jahreszeit aus. Da der Mensch wie alle anderen Tiere ein Saisontier ist, schlief er im Winter mehr als im Sommer. Die Erfindung der Elektrizität hat unsere Schlaforganisation auf den Kopf gestellt: Sie ermöglichte es uns, Lichteinwirkung so weit zu steuern, dass man glaubte, sich von biologischen Rhythmen befreien zu können. Von dieser Anmaßung sind wir immer noch nicht losgekommen und viele glauben immer noch, dass wir uns so organisieren können, wie wir wollen, zum Beispiel nachts arbeiten und tagsüber ruhen. Wir wollen den Schlaf auf ein Minimum reduzieren, ihn zu einer gewinnbringenden Sache machen und ihn nach unseren Aktivitäten einrichten. Der Körper hat aber seinen eigenen Rhythmus, man kann ihm nicht ohne Folgen einen nächtlichen Arbeitsrhythmus aufzwingen. Man passt sich so weit wie möglich an, aber es ist unbestreitbar, dass man sich schlechter erholt, wenn man tagsüber schläft. Wir werden in gewisser Weise von der biologischen Notwendigkeit eingeholt.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Schlaf und der Entwicklung von psychischen Erkrankungen?
Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Schlafmangel und psychischen Erkrankungen, insbesondere affektiven Störungen: 80 % der Menschen mit einer psychischen Störung haben Schlafstörungen. Neuere Studien haben gezeigt, dass dies auch umgekehrt der Fall ist. Chronische Schlaflosigkeit prädisponiert für psychische Störungen, insbesondere wenn sie nicht behandelt wird. Laut einer großen amerikanischen Studie, die 2020 in der Allgemeinbevölkerung durchgeführt wurde, unternahmen 11 % der Erwachsenen, die weniger als fünf Stunden pro Nacht schliefen, Selbstmordversuche. Das ist viermal so viel wie bei Erwachsenen, die ausreichend schliefen. Dasselbe gilt für die jugendliche Bevölkerung: Diejenigen, die im Vorjahr mindestens zwei Wochen Schlaflosigkeit gemeldet hatten, hatten ein fünfmal höheres Risiko, psychische Störungen wie Depressionen und Angstzustände zu entwickeln.
Sollten strenge Regeln für den Schlaf von Kindern aufgestellt werden?
Wenn das Kind tagsüber keine Anzeichen von Schlafmangel zeigt, sich allgemein gut entwickelt und tagsüber aufblüht, kann man die Eltern beruhigen: Es besteht keine Notwendigkeit, strengere Regeln einzuführen. Außerdem haben viele Kinder einen formbaren Biorhythmus: Bis zum Alter von vier Jahren machen sie tagsüber noch einen Mittagsschlaf, sodass sie etwas Schlaf nachholen können, wenn sie nachts nicht genug schlafen. Das entlastet auch die Eltern. Fernab davon sind regelmäßige Rhythmen trotzdem in jedem Alter wichtig. Und es ist sinnvoll, gewisse Grenzen für die Schlafenszeit zu setzen: Wenn diese ständig verhandelt wird, ist das für Kinder und Eltern gleichermaßen ungut.
Wie schlafen ältere Menschen?
Ihre biologische Uhr ist schwächer: Sie bleiben die 16 Stunden des Tages weniger gut wach und können die acht Stunden in der Nacht weniger gut durchschlafen. Das ist natürlich von Person zu Person unterschiedlich: Je mehr körperliche Symptome eine Person hat (Gelenkschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen usw.), desto unruhiger ist ihr Schlaf. Das ist ein Teufelskreis, denn ältere Menschen mit Schlafmangel haben ein höheres Risiko, neue Krankheiten zu entwickeln. Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema ist eindeutig, insbesondere bei neurodegenerativen Erkrankungen vom Typ Alzheimer, wo Schlafstörungen nachweislich den kognitiven Verfall beschleunigen. Viele Studien zeigen, dass ältere Menschen weniger Schlaf benötigen würden, aber die meisten schlafen schlechter. Daher ist es schwierig zu sagen, ob dies wirklich ihren Bedürfnissen entspricht. Der Schlafbedarf von gesunden älteren Erwachsenen ist nicht so viel geringer als der der übrigen Bevölkerung.
Was halten Sie von der Zunahme des Konsums von Schlafmitteln? Welche Risiken birgt ein langfristiger Konsum?
Frankreich konsumiert im internationalen Vergleich sehr viele Hypnotika. Es werden hauptsächlich zwei Arten von Medikamenten konsumiert: Benzodiazepine (wie Bromazepam und Alprazolam) und die weniger süchtig machenden Z-Moleküle (Zolpidem, Zopiclon usw.). Sie helfen beim Einschlafen, wirken entspannend und machen leicht vergesslich. Hypnotika werden häufig von Allgemeinmedizinern verschrieben, die selbst sagen, dass sie zu wenig Ausbildung im Bereich Schlaf haben. Es gibt auch einen eklatanten Mangel an verfügbaren Therapien, insbesondere an kognitiven und Verhaltenstherapien, die auf Schlaflosigkeit abzielen (CBT-i), die ihre langfristige Wirksamkeit weitgehend bewiesen haben. Abgesehen von den unmittelbaren Nebenwirkungen besteht das Problem bei Schlafmitteln darin, dass sie häufig ihre Wirksamkeit verlieren: Man neigt dazu, die Dosierung zu erhöhen, was zu einer Abhängigkeit von den Molekülen führen kann. Wenn man die Behandlung abbricht, sind die Symptome oft noch stärker als zuvor: Es kommt zu einem Rebound der Schlaflosigkeit. Man muss das Absetzen eigentlich schon zu Beginn der Behandlung vorwegnehmen und sich ganz allmählich entwöhnen.
Was ist derzeit die interessanteste Frage zum Thema Schlaf?
Es gibt aktuell viele spannende Forschungsprojekte zum Schlaf. Zu den Themen, die mich als Psychiaterin besonders interessieren, gehört dieses: Kann man die psychische Gesundheit des Einzelnen verbessern, indem man die natürlichen Bedürfnisse und Rhythmen des Einzelnen stärker respektiert? Um diese spannende Frage zu beantworten, führen Stéphanie Mazza, Professorin für Psychologie in Lyon, und ihr Team Projekte in Schulen durch, bei denen sie eng mit den Lehrern zusammenarbeiten. Man erlaubt den Kindern im Kindergarten, den Mittagsschlaf je nach ihren individuellen Bedürfnissen zu unterbrechen oder fortzusetzen. Ebenso wird der Unterrichtsbeginn für Jugendliche nach hinten verschoben, um sich ihrem Biorhythmus anzupassen. In beiden Fällen werden die Auswirkungen detailliert gemessen. Die eigenen Bedürfnisse auf allen Ebenen zu kennen und zu versuchen, sie zu erfüllen, ist ohnehin zentral für die psychische Gesundheit, auch außerhalb des Schlafbereichs. Laut einer Umfrage des Nationalen Instituts für Schlaf und Wachsamkeit im Jahr 2020 schlafen die Franzosen zum ersten Mal seit 30 Jahren im Durchschnitt weniger als sieben Stunden pro Nacht an einem Wochentag. Auch die Kinder haben etwa eine Stunde Schlaf verloren, vor allem weil sie später ins Bett gehen. Auch wenn diese Daten alarmierend sind, sollte man nicht mit einer „strafenden“ Schlafhygiene darauf reagieren. Heute wird der Schlaf tendenziell als Zeitverlust wahrgenommen. Diese Wahrnehmung muss geändert werden: Wir alle brauchen eine Auszeit, und es ist schön, abzuschalten, sich auszuruhen, zu schlafen. Es wäre interessant, diese Momente stärker aufzuwerten. Mit individuellen und kollektiven Vorteilen: eine Gesellschaft, die weniger depressiv und weniger ängstlich ist. Man könnte ad libitum Schlafwochenenden organisieren oder eine Schlafwoche. •
Carmen Schroder ist Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Straßburg und Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Universitätskliniken Straßburg sowie Koordinatorin des Exzellenzzentrums für Autismus und Neuroentwicklungsstörungen STRAS&ND.