Welchen Denkweg wählen Sie?
Philosophie ist die Suche nach Denkwegen. Zhuangzi, Descartes, Nietzsche und Heidegger haben ganz unterschiedliche eingeschlagen. Für welchen würden Sie sich entscheiden?
Der Weg ist das Bild schlechthin für die philosophische Reflexion. Viele Denker bezeichnen mit ihm die Richtung, die sie ihrer Philosophie geben. Dieser Weg bezieht sich sowohl auf konzeptionelle Entscheidungen als auch auf die individuelle Sensibilität. Sind Sie eher ein Anhänger des taoistischen Weges, des geradlinigen cartesianischen Weges, der großen Nietzscheanischen Überfahrt oder des Heideggerschen Waldweges?
Der Weg des Tao
Der Reisende nimmt die steilen Pfade, die von der Zivilisation wegführen – er flieht in die Berge oder in abgelegene Landschaften. Als guter Taoist versucht er, mit dem Weg (dem Tao) eins zu werden. Dieser Begriff aus der chinesischen Philosophie bedeutet sowohl „das höchste Wesen“ als auch „der Weg“. Es ist das Prinzip aller Dinge, die Essenz der Realität, die dennoch schwer fassbar ist. Das Tao ist bei Zhuangzi (369–288 v. Chr.) und Laozi (6. Jahrhundert v.Chr.) eine Weisheit, die darin besteht, zu einer ursprünglichen Authentizität zurückzukehren. Um dies zu erreichen, muss man „nutzlos, leer, ohne Eigenschaften, transparent sein, keine vorgefassten Meinungen und so wenig Meinungen wie möglich haben“, wie Zhuangzi erklärt.
Der taoistische Weise entfernt sich von allen sozialen Zwängen und meidet die Kultur, um mit dem Prinzip aller Dinge eins zu werden und eine ekstatische Gemeinschaft mit den kosmischen Kräften zu erleben. „Nachdem der Weise in sich selbst leer geworden ist, ist er völlig verfügbar und lässt sich wie ein totes Blatt im Strom des Lebens treiben.“
Descartes: Der methodisch vorgezeichnete und befolgte Weg
In einem Wald, in dem sich die Bäume mit ihren dichten Blättern erstrecken, soweit das Auge reicht, sieht alles gleich aus und kann den Wanderer verwirren. Ist dieser jedoch darauf vorbereitet, einen unwirtlichen Wald zu durchqueren, dann hat er seinen Weg akribisch festgelegt und hält sich an ihn. Er ist vergleichbar mit dem Weg, den René Descartes (1596–1650) auf der Suche nach der Wahrheit einschlägt. Er denkt über seinen Weg nach, um sich nicht in der Nacht der verwirrenden Meinungen zu verlieren. Er sagt, er habe „alle Kräfte seines Geistes darauf verwendet, die Wege zu wählen, denen er folgen sollte“, d.h. die zuverlässige Methode, um zum Wissen zu gelangen.
Bei Descartes sind Weg und Methode identisch – die beiden Wörter sind übrigens gar nicht so weit voneinander entfernt, da Methode vom griechischen Wort méthodos (μέθοδος) stammt, das aus dem Wort hodós (ὁδός) gebildet wurde, das „der Weg“ bedeutet. Die cartesianische Methode lässt sich auf einige wesentliche Gebote reduzieren, die empfehlen, nur das als wahr anzusehen, was spontan offensichtlich ist, komplexe Probleme zu zerlegen, um sie zu bewältigen, und das Denken wie auch das Wissen zu ordnen. Diese klaren und komprimierten Anweisungen sollten Sie ohne Unterbrechung befolgen. Selbst wenn wir glauben, uns auf der Suche nach der Wahrheit verirrt zu haben, „indem wir die Reisenden nachahmen, die, wenn sie sich in einem Wald verirrt haben, nicht umherschweifen, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, und noch weniger an einem Ort stehen bleiben sollen, sondern immer so gerade wie möglich nach derselben Seite gehen“ (Discours de la méthode, 3. Teil, 1637).
Nietzsche: Die Meeresüberquerung
Die See ist stürmisch und ein einziges Schiff, das gefährlich schwankt, hat die Überfahrt gewagt. Es ist unmöglich zu sagen, ob der erfahrene Navigator, der das Ruder in der Hand hält, den sicheren Hafen erreichen wird. Um ihn herum erstreckt sich eine grenzenlose Weite, eine Unendlichkeit, die ebenso faszinierend wie schwindelerregend ist. Die Philosophie von Friedrich Nietzsche (1844–1900) lädt uns ein, an Bord dieser anspruchsvollen Reise zu gehen.
Im Gegensatz zu Philosophen, die zaghaft denken und ihre eigenen Annahmen nicht infrage stellen, möchte Nietzsche eine neue, unerschrockene Art des Denkens einführen. Die „Philosophie der Zukunft“, die er fordert, ist kein Denken, das die Zukunft zum Gegenstand hat, sondern eine Philosophie, die endlich mit ihrer ursprünglichen Forderung versöhnt ist, alles radikal in Frage zu stellen, einschließlich der Ambition, nach der Wahrheit zu suchen, über die sich fast alle Philosophen einig sind. Sobald der Damm, der das Denken der Philosophen zurückhielt, gebrochen ist, sehen sie endlich „das offene Meer“ vor sich. Es geht nicht mehr wie bei Descartes darum, einer linearen Straße zu folgen, die zu einem Zielpunkt führt, sondern darum, diesen stürmischen und gefährlichen Ozean zu erforschen.
Die Gefahr ist nicht nur eine Metapher: sich der Willkür des Verlangens nach Wahrheit und der Unbeständigkeit und Buntheit der Realität bewusst zu werden, kann uns in den Nihilismus stürzen – die Verneinung des Wertes aller Dinge. Nur die „Genies“, d.h. die widerstandsfähigsten und furchtlosesten Geister, können die Reise überstehen. „Niemand geht mit steifem Schritte auf unbekanntem und von tausend Abgründen unterbrochenem Wege: aber das Genie läuft behend und mit verwegenen oder zierlichen Sprüngen auf einem solchen Pfade und verhöhnt das sorgfältige und furchtsame Abmessen der Schritte“, heißt es in Unzeitgemäße Betrachtungen I (1873).
Heidegger: Der gebahnte Weg
Am Rande eines Waldes, auf einem gut ausgetretenen Pfad, wird ein Wanderer von Zweifeln geplagt. Was, wenn der markierte Weg in eine Sackgasse führt? Er folgt seiner Intuition und schlägt einen Weg durch den Wald ein. Wer weiß, ob dies der richtige oder einzige Weg ist, das kann man erst entscheiden, wenn man ihn gegangen ist. Einen Weg zu finden, in der Hoffnung, dass er auf die „Lichtung des Seins“ führt, ist der Rat von Martin Heidegger (1889–1976). „Wege – nicht Werke“ steht am Anfang der Gesamtausgabe seiner Schriften. Das liegt daran, dass es vielleicht weniger ein Gesamtwerk dieses Philosophen gibt als vielmehr Wege, Durchgänge und Pfade, die in bisher unerforschte Gebiete führen.
Nach Ansicht Heideggers ist die westliche Philosophie durch das Vergessen der „Frage nach dem Sein“ gekennzeichnet, in dem Sinne, dass die Philosophen früherer Jahrhunderte sich zu sehr auf das „Seiende“ – die Dinge, die existieren – und zu wenig auf die Tatsache selbst, dass diese Dinge sind, konzentriert haben. Um diese Frage des Seins, den blinden Fleck in der Geschichte der Philosophie, anzugehen, muss ein neuer Weg eingeschlagen werden. Man muss einen Weg zu einer Wissenschaft des Seins finden, die versucht, die Natur der Dinge zu definieren, und diesen Weg beschreiten.
Einen Weg zu finden, bedeutet nach Heidegger, jede vorgegebene Methode zu überwinden; dies ist ein Konzept, das dem von Descartes entschieden entgegengesetzt ist. Während Heidegger von Edmund Husserls phänomenologischer Methode inspiriert ist, die sich für die „Dinge selbst“ interessiert, schlägt er mit seiner Untersuchung des Daseins (der Mensch in seiner Fähigkeit, das Sein zu denken) eine neue „Furche“, insbesondere in den Momenten, in denen er sich seines Seins bewusst wird, wenn er über den Tod nachdenkt, Angst hat oder sich langweilt. Der Philosoph lädt uns zu einer Reise ein, auf der „alle Ufer zurückbleiben“, wie er in Der Feldweg (1949) schreibt. •
Weitere Artikel
Ist Glück eine Entscheidung?
Ist Glücklichsein auch und vor allem eine Frage der Geisteshaltung? Kann man sich also dazu entscheiden? Aristoteles, Descartes und Alain geben darauf drei ganz unterschiedliche Antworten.

Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit
Endlich neu übersetzt: Das 2300 Jahre alte Buch Zhuangzi erklärt den Daoismus und stellt höchst aktuelle Fragen

René Descartes: Unterwegs zur Wahrheit
Mit den Mitteln der radikalen Skepsis gab René Descartes der Philosophie ein neues Fundament. Sein Diktum des „Ich denke, also bin ich“ macht das menschliche Bewusstsein zum Ausgangspunkt wahrer Welterkenntnis.

Wie Emmanuel Macron die Strategie des Ärgerns erfand
Mit seiner Aussage, dass er Ungeimpfte ärgern wolle, hat Emmanuel Macron nicht nur ein mediales Beben ausgelöst, sondern auch einen neuen Weg im Umgang mit Impfunwilligen eingeschlagen.

Julian Assange und Peter Singer – wie die Welt retten?
Julian Assange soll an die USA ausgeliefert werden, wo er wegen Spionage angeklagt ist. 2012 organisierte das Philosophie Magazin einen Dialog zwischen Assange und Peter Singer zur Frage: In welchen Fällen ist die Offenlegung geheimer Informationen geboten, in welchen sollte sie bestraft werden?

Algorithmen entscheiden nichts
Oft heißt es, Algorithmen würden „entscheiden“ oder Autos „autonom“ fahren. Doch führen derlei Begriffe in die Irre. Denn „Künstlicher Intelligenz“ fehlt etwas, was nur der Mensch hat: Phantasien, Rechtfertigungen und Vorstellungen vom guten Leben.

Roger Berkowitz: „Dieser Wahlkampf zeugte vom Ende einer ‚gemeinsamen Welt‘“
Auch wenn es so aussieht, dass Joe Biden die US-Wahlen für sich entscheiden kann, wirft Donald Trumps überraschend gutes Abschneiden viele Fragen auf. Der Philosoph Roger Berkowitz, Direktor des Hannah-Arendt-Zentrums am Bard College in New York, erklärt im Gespräch, weshalb der amtierende Präsident der schrecklichste der amerikanischen Geschichte ist, er nach wie vor so viele Menschen überzeugt und seine Amtszeit im Rückblick dennoch ein Glücksfall für die USA sein wird.

Peter Trawny: "Heideggers philosophisches Erbe steht auf dem Spiel"
„Schwarze Hefte“ nannte Heidegger Denktagebücher, die er ab 1931 führte. Lange geheim gehalten, werden sie nun veröffentlicht. Sie enthalten antisemitische Äußerungen, die eine Neubewertung der Heidegger'schen Philosophie erfordern. Gespräch mit Peter Trawny, dem Herausgeber der Hefte