Wie sollten wir uns fortbewegen?
Individuelle Mobilität verspricht Freiheit und Ungebundenheit. Doch was, wenn man kein Auto hat oder haben will? Drei philosophische Alternativen von Søren Kierkegaard, Max Horkheimer und Peter Sloterdijk.
„Zu Fuß“
Søren Kierkegaard (1813-1855)
Als Kind musste sich der Däne Søren Kierkegaard auf das Durchschreiten der eigenen Gedankengänge begrenzen. Mittels Ausgangssperre behütete der streng pietistische und schwermütige Vater seinen Sohn vor den Zerstreuungen der Außenwelt. Später jedoch verging kein Tag, an dem Kierkegaard nicht das Pflaster Kopenhagens auf- und abwanderte. „Ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entlaufe so jeder Krankheit“, schreibt er 1847 in einem Brief an seine Schwägerin Sophie Henriette Kierkegaard. Seine besten Gedanken habe er sich „angelaufen“ und er kenne keinen Einfall, der „so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde“. So sehr diese Zeilen den Eindruck eines heiteren Autors erzeugen, der beschwingt vom munteren Treiben durch die nordische Metropole spaziert, muss man sich indes auch bewusst machen: Bei den angelaufenen „besten Gedanken“ handelt es sich um einige der vielleicht düstersten Überlegungen zur menschlichen Existenz, niedergeschrieben in Texten wie Der Begriff Angst (1844) oder Die Krankheit zum Tode (1849). Auch der Melancholiker denkt also lebhafter im Schritttakt der eigenen Füße. „Je mehr man stillsitzt, kommt einem das Übelbefinden nur umso näher“, so der dänische Denker. Und gerade hier liegt der entscheidende Punkt: Der Flaneur findet die nötige Distanz, aus der er die generelle Aussichtslosigkeit des menschlichen Daseins zu analysieren vermag, ohne durch die Tatsache der persönlichen Verlorenheit vollends gelähmt zu werden. Denn „bleibt man so am Gehen“, schreibt Kierkegaard, „so geht es schon.“
„Zu Pferde“
Max Horkheimer (1895-1973)
Wie fühlt sich eigentlich Freiheit an? So mancher, der sich diese Frage in der Mitte des 20. Jahrhunderts gestellt hat, dürfte wohl an das wohlige Brummen des eigenen Autos gedacht haben. Das Autofahren als sehnsuchtsvolle Verfügung über den asphaltierten Horizont: Ein derartiges Freiheitsverständnis hatte schon früh seine Kritiker. Max Horkheimer war einer der schärfsten. „Verschiedene Grade von Freiheit“ seien im Spiel „beim Lenken eines Pferdes und beim Lenken eines modernen Automobils“, schreibt der Sozialphilosoph in seinem 1947 zuerst erschienenen Hauptwerk Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Als Autofahrer müssen wir uns ständig an Straßenschilder halten und den entgegenkommenden Verkehr bedenken. Ja, es ist beinahe so, „als ob die zahllosen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften den Wagen führen, nicht wir.“ Keiner spontanen Regung, keinem Gedanken kann der Autofahrer nachgehen, der „die Augen fortwährend auf die Straße richten“ muss. Darin gleicht er dem modernen Arbeiter, der in Sekundenschnelle „entscheiden muß, welchen der vielen Hebel oder Schalter er betätigen soll“. Wie anders ist doch das Pferd! Statt Teil eines automatisierten Systems zu sein, kann der Pferde-Lenker seiner Regung folgen. „Flinkheit“ und „Spontaneität“ sind ihm ausdrücklich gegeben. So aristokratisch der Reitersattel im Vergleich zum Pkw-Sitz auch anmuten mag, für einen der einflussreichsten linken Intellektuellen des Jahrhunderts ist klar: Dem systemgegebenen „Druck“, den sozialen und ökonomischen Kräften zu entsprechen, lässt sich gekonnter nicht entkommen, als auf dem Rücken eines Pferdes.
„Per Fahrrad“
Peter Sloterdijk (*1947)
2014 vom Magazin der Süddeutschen Zeitung gefragt, ob er noch meditiere, antwortete Peter Sloterdijk: „Indirekt, als Radfahrer“. Der philosophische Velo-Freund erkennt im Drahtesel ein Fortbewegungsmittel von nahezu transzendentem Wesen: Anstatt nur von A nach B zu gelangen, tritt der Radfahrer in die Pedale, um „als jemand zurückzukehren, der nicht identisch ist mit dem, der weggefahren war“. Bis nach ungefähr einer Stunde der „parameditative Zustand“ erreicht ist, befindet man sich im Sattel auf der Flucht vor den eigenen „schädlichen Gedanken“. Doch mit bloßem Eskapismus hat das Zweirad nichts zu tun. Der Velofahrer findet im Fahrtwind immer auch die Konfrontation mit seinem eigenen Ursprung: Radfahren sei „eine Rückkehr zu dem alten Savannen-Adam, der bei der Jagd den ganzen Tag läuft und dabei immer high ist“, sagte Sloterdijk 2008 in einem Spiegel-Interview. Zeitgleich jedoch fährt man „seinem alten Adam ein paar Meter davon“, wie er wiederum dem SZ-Magazin anvertraute. Was konkret geschieht also mit dem Radfahrer? Wer die Aufstiege mühsam meistert und den Rausch das Fahrtwindes bei der Abfahrt achtsam kostet, tritt in Dialog mit seinem eigenen urwüchsigen Selbst. Und gerade in der radelnden Selbstreflexion kommt der Mensch daher zu Einsichten über sich selbst, die eine konzentrierte, rationale Betrachtung nie zutage fördern kann. Der heimkehrende Radfahrer ist „ein besserer Mensch“. Zumindest „ähnelt er weniger dem Neurotiker, der sich auf den Sattel geschwungen hatte.“ •
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