„Yoga“ von Emmanuel Carrère
In seinem heute erscheinenden Roman Yoga steigt der Schriftsteller Emmanuel Carrère mit viel Selbstironie hinab in die Tiefen des eigenen Selbst, um sich schlussendlich durch das Leid anderer zu befreien.
In Emmanuel Carrères Büchern tauchen immer wieder Monster auf. Sei es der notorisch lügende Mörder Jean-Claude Romand in Der Widersacher oder der russische Schriftsteller und nationalistische Guru Eduard Limonow im gleichnamigen Roman. Vorgestellt werden den Lesern die Monster dabei wie freundliche Gäste und lustige Gesellen. Der Autor sorgt dafür, dass wir mit ihnen sympathisieren können. Indem er seine Romane meist auf realen Ereignissen fußen lässt und sie lediglich mit einem Hauch Fiktion bedenkt, ist der Einbruch des Pathologischen in das Gewöhnliche eine Konstante seiner Werke. Was, wenn die Wirklichkeit eigentlich ein Alptraum, ein unaussprechlicher Horror wäre und ein gewöhnliches Leben eigentlich nur als Illusion möglich? Diese Frage zieht sich durch die Texte Carrères.
In seinem nun auf Deutsch erscheinenden Werk Yoga lauert das Monster nun nicht mehr in der Welt, sondern nistet sich in der Psyche des Erzählers ein. Auf souveräne und zugleich hilflose Weise ist dieser vierhundertseitige Roman eine persönliche Geschichte und ein Eintauchen in den Abgrund der eigenen Komplexe.
Unbewohnbares Selbst
Nach einem friedlichen Jahrzehnt, in dem sich die Hauptfigur der fernöstlichen Meditation, dem Schreiben und dem Familienleben hingegeben hat, bricht in seinem Inneren plötzlich das Chaos los. Seine Gedanken beschleunigen sich ins Unerträgliche und die Figur kann sich dem nicht abreißenden Storm an wirren Fetzen kaum mehr entziehen. Schließlich führt ihn dieser Wahntrip in eine psychiatrische Klinik. Endstation: Infusionen und Elektroschocks. Mit immer größerer Wucht greifen Suizidgedanken nach ihm und selbst in „guten Momenten“ bleibt sein Geist unbewohnbar.
In Yoga findet Carrère so einfache wie treffende Worte für diese Abwärtsspirale aus Angst, Wahn und selbstzerstörerischen Tendenzen. Besonders spannend ist das Buch immer dann, wenn der tiefe psychische Riss selbst Gegenstand der Erzählung wird und sich der Autor in seiner narzisstischen Nabelschau selbst in den Blick nimmt, sich kritisiert und sich in seiner Kritik auch noch gefällt. Literatur darf nur lügen, um die Wahrheit noch deutlicher hervortreten zu lassen. So lautet einer von Carrères Maximen, denen er hier treu wird.
Wie auch in seinem Buch Julies Leben ist es die Sorge um das Gegenüber, die dem Erzähler schlussendlich das Auftauchen aus seinen eigenen Tiefen ermöglicht. Die Begleitung junger Migranten auf der Insel Leros lässt ihn sich für einen Moment selbst vergessen. Mit viel Selbstironie erzählt, erscheint das geteilte Leid tatsächlich als ein möglicher Ausweg auf. In Yoga betritt Emmanuel Carrère sein eigenes Selbst wie vermintes Feindesland und es macht Spaß, ihm zu folgen. •
Emmanuel Carrère
„Yoga“
Übersetzung: Claudia Hamm
Matthes & Seitz Berlin, 341 S., 25 €
Weitere Artikel
Shripad Yesso Maik: Nationalist als Yoga-Minister
Endlich, die Welt hat ihren ersten Minister für Yoga.
Überwachen oder Vertrauen?
Überwachungsskandale haben das Vertrauen der Bürger erschüttert. Doch wie wichtig ist Vertrauen überhaupt in einer Demokratie? Und steigt das Vertrauen in Mitmenschen nicht gerade durch Kontrollen? Die Schriftstellerin Juli Zeh und die Historikerin Ute Frevert im Streitgespräch
Hat Deutschland im Rahmen der Flüchtlingskrise eine besondere historisch bedingte Verantwortung
Während viele Deutsche nach 1945 einen Schlussstrich forderten, der ihnen nach der Nazizeit einen Neubeginn ermöglichen sollte, ist seit den neunziger Jahren in Deutschland eine Erinnerungskultur aufgebaut worden, die die Funktion eines Trennungsstrichs hat. Wir stellen uns der Last dieser Vergangenheit, erkennen die Leiden der Opfer an und übernehmen Verantwortung für die Verbrechen, die im Namen unseres Landes begangen worden sind. Erinnert wird dabei an die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden und anderer ausgegrenzter Minderheiten. Dieser mörderische Plan konnte nur umgesetzt werden, weil die deutsche Mehrheitsgesellschaft damals weggeschaut hat, als die jüdischen Nachbarn gedemütigt, verfolgt, aus ihren Häusern geholt, deportiert wurden und für immer verschwunden sind. Weil den Deutschen über Jahrhunderte hinweg eingeprägt worden war, dass Juden radikal anders sind und eine Bedrohung darstellen, kam es zu diesem unfasslichen kollektiven Aussetzen von Mitgefühl.
Steven Pinker: "Die Welt war noch nie so gut wie heute!"
Der Harvard-Professor und Bestsellerautor scheut sich nicht vor kontroversen Auseinandersetzungen. In seinem bald erscheinenden Buch bietet er dem herrschenden Pessimismus abermals die Stirn: Er findet, dass wir freier und sicherer als je zuvor leben
Philipp Felsch: „Das Vordringen zu einem ‚Urnietzsche' wäre nicht wünschenswert“
Den wahren Nietzsche freilegen. Mit diesem Ziel gaben Giorgio Colli und Mazzino Montinari die erste kritische Ausgabe von dessen Schriften heraus. In seinem heute erscheinenden Buch Wie Nietzsche aus der Kälte kam, erzählt Philipp Felsch die Entstehung des Werkes als Krimi mit offenem Ende.

Emmanuel Carrère: "Empathie hat perverse Effekte"
Das Werk des großen französischen Schriftstellers Emmanuel Carrère changiert zwischen Roman, Autobiografie und philosophischer Meditation. Ein Gespräch über die Hölle der Ironie, russischen Wahnsinn und das Reich Gottes in unserer Mitte.

Das zerstreute Ich
Unser Alltag wird zunehmend von Unterbrechungen und Multiasking bestimmt. Im Dauerfeuer der medialen reize fällt es immer schwerer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Die anzahl der ADHS-Diagnosen steigt ebenso kontinuierlich an wie jene der burnout-Diagnosen. Sind die fliehkräfte des digitalen Kapitalismus im begriff, neben dem alltag auch unser Innerstes zu zerreißen? Doch was wissen wir eigentlich über die wahre Gestalt des menschlichen bewusstseins? Ist unser Denken womöglich von Natur auf permanente zerstreuung angelegt? Stellt das dezentrierte Ich sogar utopische Perspektiven einer neuen, intensiveren Daseinsform in aussicht?
"Sich gegen Armut einzusetzen, ist eine Bürgerpflicht"
Die Zahl der Obdachlosen steigt rapide. Wie lässt sich die Würde von Menschen schützen, die auf ihre Armut reduziert werden? Ein Gespräch mit dem Philosophen Christian Neuhäuser