In-Zeit statt Auszeit
Gerade im Sommer sehnt man sich nach Urlaub und Auszeit. Doch stehen diese nicht längst selbst im Dienst einer Effizienzsteigerung? Plädoyer für eine andere Form des Pausierens.
Gerade im Sommer denke ich noch immer oft an die Bemerkung einer meiner Mentoren aus Studienzeiten. Als es um das Thema Urlaub ging, sagte der exzentrische Professor für Theaterwissenschaft: „Urlaub? Welch' bürgerliche Fantasie!“ Das verblüffte mich, weil ich doch bis dato davon ausging, Urlaub, verstanden als „Auszeit“ vom „Alltag“, sei etwas Erstrebenswertes; etwas, wofür es sich lohnt zu arbeiten, Geld zu sparen und Pläne zu schmieden. Was daran kann man denn bitte nicht wollen, fragte ich mich lange.
Heute verstehe ich die Bedeutung dieser Bemerkung besser. Was der Professor aus London damals meinte, war vermutlich: Wenn es zu den Ansprüchen einer Philosophin gehört, die Erfahrungen des eigenen Lebens zu reflektieren und daraus Allgemeingültiges abzuleiten, wenn es demnach darum geht, eine Art der Lebensführung zu finden, in der das Philosophieren einen festen Platz hat, wie erstrebenswert kann es dann sein, eine „Pause“ oder „Urlaub“ davon zu machen? Denn dies hieße ja: Pause von der Philosophie. Doch was würde man in dieser Pause tun? Was würde man im „Urlaub“ erleben, das nicht relevant für die Arbeit wäre? Oder anders gewendet: Wenn das Erlebte für die Arbeit doch relevant wäre, inwiefern wäre es dann überhaupt eine „Auszeit“?
Keine Leerstelle
Dabei ist die Frage, wozu eine „Auszeit“ gut sein soll, nicht nur für Philosophinnen und Philosophen, sondern für sämtliche Berufe von Bedeutung. Auch, wenn die jeweiligen Antworten unterschiedlich ausfallen mögen. So wird eine Pause meistens als kurze Unterbrechung einer Tätigkeit verstanden, die einen Szenenwechsel ermöglicht und in der man Kraft für die erneute, energetisierte Aufnahme der entsprechenden Tätigkeit sammelt. Die Pause steht also im Dienst der Arbeit, indem sie deren Effektivität durch kurze Unterbrechung steigert.
So ist es inzwischen ein Gemeinplatz geworden, dass uns die besten Ideen zwischen den Arbeitszeiten kommen: unter der Dusche, während eines Spaziergangs oder beim Rauchen auf der Veranda. Große Unternehmen wie Google oder Apple haben dies bereits vor einiger Zeit erkannt und versuchen durch Tischtennisplatten oder Schlummerecken am Arbeitsplatz, kreatives Kapital aus der Zeit zwischen den Aufgaben zu schlagen. Was das für die Individuen bedeutet, wäre sicher kritisch zu hinterfragen. Klar scheint jedoch, dass die Pause nicht als Leerstelle zu betrachten ist, sondern sie als essenzieller Teil zur Arbeit und damit zum Leben gehört. Die Pause ist nicht das Andere, sondern müsste philosophisch viel ernster genommen werden, als dies derzeit der Fall ist.
Austauschzeit
Vor diesem Hintergrund tut sich nun eine folgenreiche Frage auf, die das wahre Potenzial der Auszeit erkenntlich macht: Suchen wir in der Pause und dem Urlaub vielleicht weder einen effizienzsteigernden Szenenwechsel noch Momente interventionsfreier Ruhe fern von allem Alltäglichen, sondern in Wirklichkeit eine tiefere Verbindung zu all dem, was uns umgibt? Oder anders formuliert: Vielleicht wünschen wir uns keine „Auszeit“, sondern Zeit zum Austausch mit der Umgebung, „Austauschzeit“ also. Dies würde Zeitstrukturen mit viel Raum zum Ein- und Ereignenlassen nötig machen, denn Hektik koppelt uns von uns selbst und unserer Umgebung ab – und macht einsam.
Dabei ginge es bei der Austauschzeit nicht in erster Linie um den Kontakt mit anderen Menschen, sondern mit dem eigenen Dasein. Der Wunsch nach „Auszeit“ entspräche somit keinem Wunsch Aus-der-Zeit zu sein (was sollte das auch bedeuten), noch wäre sie mit Außer-sich-Zeit treffend beschrieben. Gemeint wäre vielmehr eine In-Zeit. Im Gegensatz zur Auszeit wäre die In-Zeit nämlich eine Kombination aus „insight“ und „in-site“. Läge der wünschenswerte Weg also nicht gerade in einem ausgeglichenen Leben in der Zeit, das tägliche Abwechslungen zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Modi bietet? Ein Leben, bei dem keine Aus-Zeit jenseits des Alltagsstresses notwendig wäre, sondern Pausen, Abwechslung und wirkliche Ruhe im Rahmen des aktiven alltäglichen Lebens selbst. Vielleicht ist das allerdings auch gerade die „bürgerliche Fantasie“, von der mein Mentor sprach. •
Alice Lagaay lehrt als Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Zum Thema hat sie u.a. (z.m. Barbara Gronau) den Band „Performanzen des Nichttuns“ (Passagen, 2008) herausgegeben.