Zhao Tingyang: „Die Weltgeschichte hat noch nicht begonnen“
Kriege stehen der Geschichte im Weg, meint der chinesische Philosoph Zhao Tingyang. Im Interview spricht er über die Notwendigkeit der Kooperation, den Beginn der technologischen Ära und eine neue Weltordnung, die sich das Internet zum Vorbild nimmt.
Herr Zhao Tingyang, Francis Fukuyama sieht die westlich-liberale Demokratie durch die Wehrhaftigkeit der Ukraine gegen Russland gestärkt. Sehen Sie das auch so?
Es ist zu früh, um die Folgen des Krieges abzuschätzen. Die unmittelbare Wahrnehmung kann sich als irrig erweisen, wenn sie am Konzept der „longue durée“ gemessen wird, wie es Fernand Braudel entwickelt hat. Seit ich Braudel gelesen habe, lese ich weniger Nachrichten. Wichtiger sind die Veränderungen in der ontologischen Beschaffenheit unserer Realität. „Ontologische Ereignisse“ bewirken einen Wandel der Lebensweisen. Laut dem I Ging: Das Buch der Wandlungen, einer Art chinesischer Bibel, sind die epochalen Umbrüche vor allem technologische Erfindungen. Ich glaube, das stimmt. Insofern liegt Fukuyama mit seinem „Ende der Geschichte“ falsch. Die Welt bewegt sich weiter. Vom aufklärerischen Erbe der liberalen Demokratie scheint dabei nicht mehr viel übrig zu bleiben. Das Konzept der Demokratie ist offen für andere Möglichkeiten, da sich die Realität ontologisch verändert. Ich habe die Theorie der „smart democracy“ vorgeschlagen, in der Hoffnung auf einen vernünftigeren Umgang mit Problemen, die im Rahmen der liberalen Demokratie offenbar nicht zu lösen sind.
Was ist das Problem mit der liberalen Demokratie?
Innerhalb der liberalen Demokratie ist die „Publikratie“ ein trojanisches Pferd der Unvernunft. Mit Publikratie meine ich eine demokratische Verzerrung oder einen Missbrauch von Demokratie. Anstelle des „öffentlichen Gebrauchs der Vernunft“, von dem Kant spricht, fördert die Publikratie vorgefertigte Meinungen und eine kollektive Irrationalität, die den öffentlichen Raum beherrscht. Der öffentliche Raum in Gestalt der Agora sollte mittels offener und vernünftiger Debatten das Denken von willkürlichen Doktrinen befreien. Doch die Publikratie ist zu einem „Markt der Meinungen“ geworden, auf dem sich die verführerischsten Vorurteile, Ideologien, Gerüchte und Lügen durchsetzen. Die Welt erlebt die Geburt einer despotischen Publikratie, einer Entstellung der Demokratie im Namen der Demokratie. Die Kombination mit der politischen Korrektheit hat die Lage noch verschlimmert. Die liberale Demokratie – entworfen, um die „negative Freiheit“ aller zu schützen – wird an die politische Korrektheit gefesselt, der es um die „positive Freiheit“ einzelner Gruppen geht. Isaiah Berlin hat mich überzeugt, dass positive Freiheiten unberechenbar und gefährlich sind.
Hegel schrieb, die Weltgeschichte beginne in China, bewege sich dann nach Westasien, Europa und Amerika. Kehrt sie jetzt nach China zurück?
Hegels Vision von der Weltgeschichte ist hochinteressant und fantasievoll, aber kein bisschen wahr. Seine metaphysischen, „dialektischen“ Gesetze der Geschichte existieren nicht. Geschichte hat keine Gesetze, nur Ungewissheiten. Verschiedene Nationen haben jeweils ihre eigene Geschichte, an verschiedenen Orten, auf verschiedene Arten, in verschiedenen Rhythmen, mit verschiedenen Zielen. Eine „Welt unserer Welt“ gibt es nach wie vor nicht und schon gar keine Weltgeschichte. Konzeptuell ist eine Welt ein System, das auf kohärente Weise alle möglichen Dinge enthält. Eine solche Welt ließe sich mit dem Begriff des „Tianxia“ definieren – als „Alles-unter-dem-Himmel“: ein koexistenzielles System anstelle der Anarchie und der internationalen Politik. Die Weltgeschichte wird erst beginnen, wenn die Welt gemacht worden ist. Das kann dauern, doch dann wird ein neues Zeitalter anbrechen.
Was ist der Unterschied zwischen Tianxia und anderen Ordnungsmodellen wie einer Weltregierung, einer Föderation oder einem Wettbewerb von Nationalstaaten?
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