Cioran und der Nihilismus
Emil Cioran gilt als abgründiger, stilbewusster Finsterling und radikaler Neinsager des 20. Jahrhunderts. Erfüllt von Welt- und Menschenekel wetterte er gegen jedes Heilsversprechen, jede Utopie, jede Systematik und gegen seine eigenen Dämonen. Dabei schrieb er buchstäblich um sein Leben. Über die heilsame Macht des negativen Denkens.
Wer eines der Bücher Ciorans an einer beliebigen Stelle aufschlägt, der blickt sofort mitten hinein ins Herz der Finsternis. Das Leben ist sinnlos, so der Leitgedanke. Der Mensch ist ein schlechter kosmischer Witz, als Individuum und als Gattung dem Untergang geweiht. Gott? Der ist eh längst mausetot. Das hatte Nietzsche bereits erkannt, aber nicht konsequent genug weitergedacht, meint Cioran. Wie Nietzsche war auch er Sohn eines Geistlichen, wie Nietzsche hatte auch Cioran ausgeprägte blasphemische Passionen. In Die verfehlte Schöpfung bekundet er seinen Ärger darüber, Gott nicht eigenhändig zur Strecke gebracht zu haben. Dafür macht er sich nun umso energischer daran, den göttlichen Kadaver zu fleddern. Auch bei allen sonstigen Heilsversprechen und Utopien holt er zum Vernichtungsschlag aus. Fortschrittsglaube ist Cioran zufolge nicht bloß trügerisch, sondern führt schnurstracks in den Abgrund. „Es ist gewiss“, schreibt er Ende der 1960er, „dass das 21. Jahrhundert, das weit fortgeschrittener sein wird als das unsere, in Hitler und Stalin nur harmlose Sängerknaben sehen wird.“
Auf stilsicher formulierte Schreckensvisionen folgt brachialer Menschenekel: „Man möchte zuweilen ein Kannibale sein, nicht um diesen oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.“ Über Todesfurcht kann Cioran nur sardonisch lachen. Denn was ist schon das Lebensende verglichen mit der Katastrophe der Geburt? Allein der Gedanke daran, dass „noch die letzte Missgeburt die Gabe besitzt, Leben zu geben“, verdirbt ihm endgültig die ohnehin schon miserable Laune. Sich selbst rühmt Cioran, er habe alle Verbrechen begangen, bis auf eines: „Vater zu sein“. Der Menschheit rät er dringend von der Fortpflanzung ab. Das haben vor ihm zahlreiche andere getan. Spielarten des sogenannten Antinatalismus findet man bei frühchristlichen gnostischen Sekten wie dem Manichäismus. Ebenso im Hinduismus, der darauf abzielt, den leidvollen Kreislauf von Leben, Sterben und Wiedergeburt zu durchbrechen. Im 19. Jahrhundert gehörte Arthur Schopenhauer zu den prominentesten Verfechtern der metaphysischen Null-Kind-Politik.
Vor einiger Zeit sorgte Raphael Samuel, ein junger Mann aus Indien, mehrfach für Schlagzeilen. Er wollte seine Eltern verklagen, weil diese ihn in die Welt gesetzt hatten, ohne zuvor seine Erlaubnis einzuholen. Das Gericht wies das Verfahren im Vorfeld ab. Macht nichts, meinte Samuel, es sei ihm in erster Linie nur darum gegangen, „ein Zeichen“ zu setzen. Hierzulande brachte es die Lehrerin Verena Brunschweiger zu einer beachtlichen Anzahl an Talkshow-Auftritten, weil sie ein Buch, betitelt mit Kinderfrei statt kinderlos, verfasst hatte. Gebärstreik, hieß es darin, sei einfach besser; besser für den Weltfrieden, besser fürs Klima, besser für den Feminismus. Natürlich können sich Samuel und Brunschweiger auf Cioran als Stichwortgeber berufen, so wie dieser sich auf die Gnostiker, den Hinduismus und Schopenhauer berufen hatte. Doch verglichen mit Cioran sind zeitgenössische Antinatalisten nur harmlose Sängerknaben. Mit ihrem fadenscheinigen Weltverbesserungsanspruch, ihrer auftrumpfenden Thesenhuberei und ihrer aktivistisch verbrämten Gier nach Aufmerksamkeit wären sie ihm ein Gräuel gewesen.
Am Abgrund des Daseins
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Andreas Reckwitz: „Wir erleben einen Wandel hin zu einer Politik des Negativen“
Angesichts der Krisen des 21. Jahrhunderts fokussiert sich die Politik auf den Umgang mit Risiken. Aber welcher Preis ist damit verbunden? Ein Gespräch mit dem Soziologen Andreas Reckwitz über die Sehnsucht nach Resilienz, wertvolle Realismuseffekte und verpasste Entwicklungschancen.

Sébastien Tellier - Der Gestrandete
Langhaarig, bärtig, messianisch: Sébastien Tellier ist nicht von dieser Welt. Der 38-jährige französische Sänger startete 2008 beim Eurovision Song Contest, sein Album „Sexuality“ wurde von Daft-Punk-Mitglied Homem-Christo produziert. Seine Stimme: ein Heilsversprechen. Seine Anzüge: eine Wucht.
Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für Omri Boehm
Der israelische Philosoph Omri Boehm erhält für sein Buch Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Wir gratulieren herzlich. 2020 haben wir mit ihm über falsche Identitätspolitik und eine Utopie namens Israel gesprochen.

Dialog zwischen Silvia Bovenschen und Alexander García Düttmann: Was macht die große Liebe aus?
Für die Schriftstellerin Silvia Bovenschen ist die Liebe nichts weniger als ein Aufstand gegen das Elend der Kreatur. Der Philosoph Alexander García Düttmann sieht die Liebe voller abgründiger Paradoxien. Zwei Freunde im Gespräch über ein unerhörtes Gefühl.

Hegel im Überblick
Trotz aller Systematik fällt es oft schwer, den Überblick über Hegels Philosophie zu behalten. Ein Glück, dass Millay Hyatt, die selbst zu Hegel promovierte, drei seiner großen Werke im Überblick darstellt. Das scheinbar Unmögliche wird so möglich: die Wissenschaft der Logik, die Phänomenologie des Geistes und die Grundlinien der Philosophie des Rechts in ihren Grundzügen auf einer Seite zu erschließen.

Die neue Ausgabe: Was machen wir mit unseren Ängsten?
Angst lähmt. Wer sie empfindet, will sie schnell wieder loswerden. Doch was, wenn in der Angst eine Chance läge? Wie kann es gelingen, diesem negativen Gefühl ein produktives Potenzial abzuringen? Lässt sich Angst gar als Möglichkeit für eine freiere Existenz begreifen?
Hier geht's zur umfangreichen Heftvorschau!

Netzlese
Fünf Klicktipps für den Sonntag. Diesmal mit John Rawls' Urtext zur Gerechtigkeit, den US-Republikanern als nationale Peinlichkeit, einer Bildungsutopie, der bedürfnisorientierten Gesellschaft sowie philosophischen Dämonen.

Sartres Weg zur Selbstbefreiung
Sartres frühe existenzialistische Werke behaupten die absolute, unbedingte Freiheit jedes einzelnen Menschen. Eine wirkmächtige Idee, die weit in die sozialen Emanzipationsbewegungen des späten 20. Jahrhunderts hineingewirkt hat. Aber die Freiheit hat auch eine Rückseite: die Verantwortung.
