Der fehlende Teil. Karl Heinz Haag zum Geburtstag
Karl Heinz Haag, der heute 98 Jahre alt geworden wäre, galt einmal als philosophischer Nachfolger Horkheimers und Adornos. Doch dann verschwand er von der Bildfläche. Seine Schriften greifen einen metaphysischen Strang der Kritischen Theorie auf, der heute vergessen, aber vielleicht aktueller denn je ist.
Kritische Theorie unterhielt in ihren Anfängen eine innige Beziehung zu Gott. Walter Benjamins leninistischer Messianismus, Theodor W. Adornos Kunstglaube und Max Horkheimers „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ zehrten von einem Zugang zum überirdischen Bereich. Wenn in der Welt ein böser Hexenmeister namens Fortschritt wirkt, der mit dem Zauberstab der Dialektik jede Aufklärung in Barbarei verwandelt, muss die Pforte zum Besseren von einem unvorstellbaren Wesen aufgestoßen werden – auch wenn dieses Wesen die bisherige Geschichte ganz schön vermasselt hat, weshalb es als Initiator eines heiligen Plans gescheitert ist. „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ nannte dies Adorno.
In späteren Generationen der Frankfurter Schule ging dieser Bezug verloren, seit Jürgen Habermas in den 1980er Jahren den Eintritt ins „nachmetaphysische“ Zeitalter verkündet hatte. Wer über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgehe, mache sich der Spekulation schuldig und unterstelle ein verborgenes Wesen, wo in Wahrheit menschliche Freiheit herrsche.
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