Hans Ulrich Gumbrecht: „Nicht zufällig war der Faschismus eine Radiokultur“
Die Stimme beeinflusst uns mehr, als wir oft denken, so Hans Ulrich Gumbrecht in seinem neuen Buch. Ein Gespräch über mystische Körper, Trumps Attraktivität und eine Politik der Anwesenheit.
Herr Gumbrecht, was interessiert Sie an der Stimme?
Die Stimme befindet sich in einer eigenartigen Zwischenposition, sie ist Körper und Geist zugleich. Sie transportiert Bedeutungen, aber weckt auch Assoziationen. Das macht sie so schwer zu fassen. Klar ist jedenfalls, dass sie etwa für Gespräche enorm wichtig ist. Stimmen bilden existenzielle Räume, die den Gesprächsinhalt beeinflussen. Sie erzeugen ein Gefühl von Nähe.
Dennoch hat die Philosophie der Stimme nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Warum?
Seit der frühen Neuzeit wurde im westlichen Denken die Präsenzseite der Existenz ausgeblendet. Rationalität bedeutete seit Descartes auch: Wo du bist, spielt keine Rolle. Nur der Gedanke zählt. So wurde auch die Stimme zur bloßen Nebensache erklärt. In der politischen Rhetorik der Neuzeit gilt das Ideal, dass der Erfolg einer Rede nicht davon abhängen darf, ob vom Redner eine Faszination ausgeht. Man geht nicht davon aus, dass Merz die Wahl gewonnen hat, weil er anziehend wirkt, sondern weil er bestimmte Inhalte artikuliert. Für den Rationalismus sind Raum und Präsenz ein Ärgernis.
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