Mein Mut
Woher kommt der Mut? Sind es konkrete Situationen? Ideale? Oder tiefes Selbstvertrauen? Eine Lebensretterin, ein ehemaliger Berufssoldat und ein Extremkletterer erzählen.
August 2018: Es sind Sommerferien, die 13-jährige Zoe Karg sitzt morgens in der Küche beim Frühstück, als sie auf einmal Schreie aus dem Hof hört. Sofort läuft sie auf den Balkon, um zu sehen, was los ist. Die Nachbarn stehen draußen und deuten aufs Nebenhaus: Aus den Fenstern steigen schwarze Rauchwolken auf. Das Haus brennt. Im geöffneten Fenster schräg über ihr stehen Zoes Nachbarin und ihr Sohn, sie sind von den Flammen eingeschlossen. Zoe denkt nicht lange nach. Sie läuft ins Haus, holt einen Stuhl und kann sich so vom Balkon aus über den meterbreiten Spalt zum Nachbarhaus strecken und den beiden Eingeschlossenen die Hand reichen – eine lebensgefährliche Situation: Auf einem kippligen Stuhl lehnt sie sich über den Abgrund, unter ihr geht es über zehn Meter in die Tiefe.
Ich sitze mit Zoe auf eben jenem Balkon, auf dem sich vor vier Jahren die Rettungsaktion abspielte. Ihre feuerroten Haare sind zu einem ordentlichen Zopf geflochten, ihr Gesicht ist voller Sommersprossen. Während ihre Mutter uns mit Getränken versorgt, erinnert sie sich: „Zuerst habe ich den sechsjährigen Sohn herübergehoben und in unsere Wohnung gebracht, dann habe ich der Frau geholfen, auf unseren Balkon zu klettern.“ Gezögert habe sie in dem Moment überhaupt nicht: „Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, ob ich das Richtige tue. Ich habe einfach intuitiv gehandelt. Erst später ist mir bewusst geworden, was da alles hätte passieren können.“
Der Mensch als verwundbares Gefühlswesen
Diese mutige und selbstlose Tat ist alles andere als selbstverständlich. Physiologische Untersuchungen des Fight-or-flight-Mechanismus bestätigen, dass der Körper in Gefahrensituationen mit der Ausschüttung von Adrenalin reagiert und so einen natürlichen Fluchtinstinkt aktiviert, der soziohistorisch tief in uns verankert ist. Und dennoch überwinden Menschen immer wieder ihre Angst, stellen sich inneren Widerständen oder riskieren sogar – wie Zoe – ihr eigenes Leben. Was veranlasst uns, über uns selbst hinauszuwachsen und uns schwierigen, gar beängstigenden Herausforderungen zu stellen?
Für Zoe war es die Situation selbst, die sie zum Handeln animierte: zwei Menschen, die sich in Lebensgefahr befinden. Die Angst und die Hilflosigkeit in ihren Gesichtern waren für Zoe der stärkere Antrieb als der Fluchtinstinkt, der auf das eigene Überleben zielt. Wie lässt sich das erklären? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in der Philosophie von Emmanuel Lévinas. Der Mensch ist für Lévinas nicht in erster Linie ein vernunftbegabtes, logisch kalkulierendes Geschöpf, sondern ein verwundbares Gefühlswesen. Dem „Antlitz“ des anderen, das uns unverhüllt und verletzlich entgegentritt, können wir nicht mit Gleichgültigkeit begegnen. In seiner Verletzlichkeit fordert es uns zur Empathie und im Zweifelsfall auch zu entschlossenem Handeln auf: „Du sollst mich (…) nicht allein lassen!“
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