Nietzsche und die Selbstbestimmung
Nietzsche gilt vielen als amoralischer Denker, der einen radikalen Elitismus auf Kosten der Mehrheit predigte. Doch es finden sich in seinen Schriften auch ganz andere Ansätze, die Selbstbestimmung der Menschen zu denken. Sogar für ein neues Verständnis der Demokratie lassen sich Nietzsches Überlegungen fruchtbar machen.
Friedrich Nietzsche ist – entgegen einer Auslegungstradition, die seit einem Jahrhundert erfolglos versucht, ihn auf bestimmte Begriffe festzulegen – derjenige Denker, der sich begrifflichen Festlegungen beharrlich verweigert. Entsprechend wird man bei ihm auch einen fest gefügten Begriff von Selbstbestimmung vermissen. Was man hingegen findet, sind wiederholte Versuche, jenem alten Motiv, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, neues Leben einzuhauchen. Dabei verweigert Nietzsche den Glauben an alte Behaglichkeiten der Aufklärung: Erstens setzt er nicht mehr voraus, dass Selbstbestimmung eine Selbstgesetzgebung der Vernunft sein könnte, schon, weil er dem Begriff der Vernunft tief misstraut. Zweitens begegnet er dem Anspruch auf Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen mit Skepsis. Aber schauen wir genauer hin und wagen uns ins Labyrinth von Nietzsches Selbstbestimmungsversuchen.
„Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebahrenden und dabei das Wort ‚Sklave‘ ängstlich scheuenden Welt gegeben sind: wir reden von der ‚Würde des Menschen‘ und von der ‚Würde der Arbeit‘.“ So steht es am Anfang eines Textes, den Nietzsche als Vorrede zu einer nie geschriebenen Abhandlung Der griechische Staat Ende 1872 zu Papier gebracht hat und Cosima Wagner zu Weihnachten schenkte. Nietzsche zögert darin nicht, den noch ziemlich rechtlosen modernen Industriearbeiter mit dem antiken Sklaven gleichzusetzen, der quasi eine bloße Sache in der Hand des ihn besitzenden Herrn war. „Würde der Arbeit“ und „Würde des Menschen“ seien gegenwärtig bloßes Wortgeklingel, während tatsächlich der nur unzureichend verschleierte Sachverhalt der Sklaverei vorliege.
Diese Diagnose führt Nietzsche allerdings nicht zu klassenkämpferischen Parolen. Ganz im Gegenteil: „Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre“. Das riecht nach starkem Tobak, der allerdings so von Nietzsche nie zur Veröffentlichung freigegeben wurde – obwohl der Philosoph sich sonst zeit seines Denkerlebens nicht scheute, seine wenigen Leserinnen und Leser mit Waghalsigkeiten zu behelligen. Sind die Äußerungen im Weihnachtsmanuskript für Cosima Wagner nun ein Stück burlesker Übertreibung oder ein ernst gemeintes und zur Umsetzung empfohlenes, politisches Manifest oder schließlich doch nur die Beschreibung eines bedauerlichen, zu überwindenden Zustands? Letzteres könnte man mutmaßen, wenn man sich an jenes Werk erinnert, das der Gatte der Widmungsträgerin, der Komponist Richard Wagner, zwei Jahrzehnte vor Nietzsches Vorrede unter dem Titel Oper und Drama veröffentlicht hatte. Dort attackierte der gewesene Revolutionär Wagner den Staat als die dem Individuum eigentlich feindliche Macht, um stattdessen zu einer neuen, der Individualität zu ihrem Recht verhelfenden Gesellschaftsorganisation zu finden: „Die Gesellschaft in diesem Sinne organisieren heißt aber, sie auf die freie Selbstbestimmung des Individuums als auf ihren ewig unerschöpflichen Quell gründen (…) und (…) den Staat vernichten; denn der Staat schritt durch die Gesellschaft zur Verneinung der freien Selbstbestimmung des Individuums vor – von ihrem Tode lebte er.“
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