Ralf Konersmann: „Wir haben die Ruhe um ihren guten Ruf gebracht“
Antike Philosophen verbanden die Ruhe mit Glück. Seit dem Beginn der Neuzeit wurde sie westlichen Kulturen zunehmend suspekt. Ralf Konersmann über die Frage, wie die Unruhe zum Modus der Existenz wurde.
Herr Konersmann, was ist das für Sie – Ruhe? Wie würden Sie diesen Zustand beschreiben?
Definitionen von Begriffen solchen Kalibers sind äußerst schwierig und häufig auch verkürzend, da sie viele Voraussetzungen in sich bergen. Im Fall der Ruhe ist das beispielsweise eine gesamte Ideengeschichte, die auf jüdisch-christlichen Traditionen basiert und unsere westliche Kultur bis heute prägt. Von zentraler Bedeutung ist dabei der alttestamentliche Genesis-Bericht und die Vertreibung des Brudermörders Kain durch Jahwe. Von diesem Mythos, der vom Verlust der Ruhe erzählt, hin zu einer klaren Definition ist der Weg doch sehr weit.
Ruhe, das klingt heute für viele allerdings nicht nur nach einem Begriff mit großer kultureller und gesellschaftlicher Ladung, sondern nach einer Zumutung, nach Stillstand, vielleicht sogar nach Totenruhe. Wie kommt es, dass die Ruhe gleichzeitig Sehnsucht und Abneigung auslöst?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Ralf Konersmann: „Die Moderne hat die Überschreitung normalisiert“
Das Maß stand einst für eine ganzheitliche Ethik. In der Moderne jedoch weicht das Maß dem Messen und der Maßlosigkeit. Ein Gespräch mit dem Philosophen Ralf Konersmann über Camus’ Rückgriff auf antike Gedanken und die Gefahren einer vermessenen Welt.

Ralf Konersmann: „Der Außenseiter ist ein ständiges Rätsel“
Menschen, die ein nonkonformistisches Leben führen, verstören die moderne Gesellschaft, meint Ralf Konersmann. In seinem neuen Buch ergründet der Philosoph, welche Funktion diese Einzelnen für die Allgemeinheit haben. Ein Gespräch über das Außenseiterdasein, konformistische Rebellen und die Enge der Gemeinschaft.

Zahlenzauber
Ralf Konersmann untersucht in seiner Ideengeschichte des Maßes, wie Messbarkeit und Machbarkeit in die Welt kamen – und das antike Maß verloren ging.

Orte für Abweichler
Ralf Konersmann untersucht die Rolle des Außenseiters – und findet philosophische Freigeister außerhalb der Institutionen. Sein Essay ist auch ein Plädoyer für Gedankenexperimente jenseits der „Höhle des Jargons“.

Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Gibt es einen guten Tod?
Kein Mensch entgeht dieser Frage. Für die meisten bleibt sie mit Angst behaftet. In den aktuellen Debatten zur Sterbehilfe wird über den guten Tod vor allem im Sinne des guten Sterbens und damit reiner Machbarkeitserwägungen verhandelt. Wo liegen unvertretbare Leidensgrenzen? Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Ende zu bestimmen? Gibt es den wahrhaft frei gewählten Suizid überhaupt? Im Zuge dieser Konzentration auf das Sterben geraten die lebensleitenden Fragen aus dem Blick. Wie gehen wir mit der eigenen Endlichkeit und der unserer Nächsten um? Können wir uns mit dem Tod versöhnen? Wie sieht eine menschliche Existenz aus, die ihr Ende stets verdrängt? Oder ist das bewusste Vorauslaufen in den Tod – wie es beispielsweise Sokrates oder Heidegger behaupten – nicht gerade der Schlüssel zu einem gelungenen Dasein? Mit Beiträgen unter anderem von Svenja Flaßpöhler, Reinhard Merkel, Philippe Forest, Thomas Macho und David Wagner
Zwilling des Todes
Schon immer wurden Schlaf und Tod miteinander in Verbindung gebracht. Das löst gegensätzliche Reaktionen aus: Für die einen ist der Schlaf der Feind der Lebensfülle, für die anderen ein Zustand glückseliger Ruhe. Darin zeigt sich das grundlegende Dilemma unseres Lebens.

Zwischen Brüderlichkeit und Herrschaft
Philosophen der Antike waren überzeugt: Ohne Freundschaft kann es kein Gemeinwesen geben. Die Neuzeit sah es umgekehrt: Freundschaft hat in der machtbestimmten Politik nichts verloren. Seit der Französischen Revolution versucht man nun Eigeninteresse und Solidarität zu verbinden.
