Renaissance der Revolte
Im Gegensatz zur Revolution galt die Revolte oft als kurzatmiges und richtungsloses Aufbegehren. Doch gegenwärtige Protestszenarien zeigen: Die Revolte ist relevant wie nie zuvor, stellt sie doch unsere politische Architektur infrage und legt damit revolutionäre Kräfte frei. Ein Lob der Revolte von Donatella Di Cesare.
Von der öffentlichen Meinung als reflexhaft, chaotisch und letztlich aussichtlos angesehen, unterlag die Revolte schon immer einer einhelligen Vorverurteilung. Als planloses und daher auch wirkungsloses Unterfangen verschwände sie ebenso schnell wie sie aufgetaucht ist – ohne jede Spur zu hinterlassen, außer vielleicht die einer dramatischen Niederlage. Während die Revolution, die mit einer in der Geschichte zu verwirklichenden Idee anhebt, wie eine Lokomotive den Gleisen des Fortschritts folgt, stellt die Revolte einen Bruch dar, ein Aussetzen, den Augenblick, in dem der Zug entgleist. Neben ihrer Einschätzung als nicht progressiv könnte sie sich darüber sogar als antirevolutionär erweisen. Zu diesem Urteil gelangte schließlich nicht nur Karl Marx und unterschätzte damit etwa den haitianischen Aufstand der Schwarzen Jakobiner, sondern auch Michail Bakunin, der zwar die initiale Bedeutung der Revolte unterstrich, sie jedoch nur als hinter sich zu lassendes Durchgangsstadium einer umfassenderen revolutionären Kinetik begriff.
Wenn wir die Gegenwart durch diese Brille betrachteten, wären wir gezwungen, die Tragweite der sie durchziehenden unzähligen Revolten einzuschränken und herunterzuspielen. Und zwar umso mehr, als die aktuellen Revolten von unterschiedlichen Forderungen bedingt und äußerst vielfältig erscheinen – seien sie nun episodischer oder wiederkehrender Natur, nur zögerlich angedeutet oder ganz offen subversiv. Wenn die Öffentlichkeit jene Perspektive vorzieht, dann deshalb, weil die Revolte die Logik der institutionellen Politik durchbricht und übersteigt. Sich derart an den Rändern zu verorten, heißt jedoch nicht zugleich, marginal zu bleiben. Vielmehr ist genau darin das Potenzial der Revolte auszumachen, die sich im öffentlichen Raum auszubreiten sucht, um die politische Governance und ihr abstrakt administratives Geschäft auf ihrem eigenen Terrain herauszufordern.
Daher ist es geboten, die Perspektive umzukehren und die Revolte nicht aus dem Inneren heraus, das heißt der staatszentrierten Ordnung, zu betrachten, sondern von jenem „Außen“, in dem sie selbst sich situiert. Die Revolte ist weder ein vernachlässigbares Phänomen noch das Relikt einer archaischen Vergangenheit, die der Fortschritt mit seiner unwiderstehlichen Linearität verfeinert und letztlich überwunden hätte. Die Revolte ist nicht anachronistisch, sondern anachron, da sie einer anderen Zeiterfahrung entspringt und einen Blick in die fernere Zukunft eröffnet: Während die Revolution das Morgen vorbereitet, beschwört die Revolte bereits das Übermorgen herauf. Wer noch kein Heute hat, kann sich zum Protagonisten des Augenblicks aufschwingen und die geschichtliche Zeit suspendieren. Dies zeigt sich umso deutlicher auf der aktuellen Bühne, wo sich ökonomische und politische Motive zunehmend mit existenziellen Beweggründen verflechten. Die Revolte verleiht einem unbestimmten Unbehagen Ausdruck und offenbart die enttäuschten Erwartungen eines Fortschritts, der die Abgründe der Ungleichheit, die Logik des Profits und die Ausplünderung der Zukunft letztlich noch weiter begünstigt hat.
Verratene Revolution?
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