Simone Weil: Das Leid der anderen
In ihrem Lebensvollzug war Simone Weil radikal und setzte sich einer selbst gewählten Entwurzelung aus. In ihrer Philosophie befasst sie sich hingegen intensiv mit dem Bedürfnis nach Wurzeln.
Simone Weil wird am 3. Februar 1909 in Paris geboren. Ihre Familie ist jüdisch, praktiziert den Glauben jedoch nicht: „ich [bin] bei meinen Eltern und meinem Bruder in völligem Agnostizismus aufgewachsen“. Früh schon zeigt sie tiefes Mitgefühl für menschliches Leid: Sie ist gerade erst fünf Jahre alt, als sie sich mitten im Ersten Weltkrieg weigert, das kleinste Stück Zucker zu essen, um ihre Ration den Soldaten an der Front zu schicken.
Nach dem Abitur bereitet sie sich drei Jahre lang am Lycée Henri-IV für die Aufnahme an die École normale supérieure vor. Zu dieser Zeit ist Émile Chartier ihr Philosophielehrer. Später während des Studiums für die Lehrerlaufbahn begegnet sie bekanntlich auch Simone de Beauvoir an der Sorbonne: „Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, dass sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: Diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“ Mit der Lehrerzulassung in der Tasche beginnt sie in Puy-en-Velay zu unterrichten. Sie kritisiert sowohl den Stalinismus als auch den Nationalsozialismus und steht der Arbeiterbewegung nahe, wie ihre Schrift Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung (1934) zeigt.
Schwerkraft und Gnade
Im Winter 1932 nimmt sie am Streik der Arbeiter in Puy teil und beschließt, wie die Streikenden von nur 5 Francs am Tag zu leben. Noch weiter geht sie in ihrer Verbundenheit mit menschlichem Leid, als sie zwischen 1934 und 1935 entscheidet, voll und ganz als Arbeiterin zu leben. Sie erfährt die Fabrikarbeit am eigenen Leib: „Das Unglück ist ein Mechanismus, der die Seele zermalmt; der Mensch wird dabei wie ein Arbeiter von den Zähnen einer Maschine erfasst. Es bleibt nur etwas Zerrissenes, Blutiges.“ Der zermürbende Rhythmus der Maschinen und ihre prekäre Gesundheit lassen eine Weiterarbeit nicht zu.
Obwohl sie eine engagierte Pazifistin ist, beschließt sie am Spanienkrieg teilzunehmen, der 1936 ausbricht. „Ich mag den Krieg nicht, aber was ich im Krieg immer am schrecklichsten fand, ist die Situation derer, die sich im Hinterland befinden und über etwas schwatzen, von dem sie keine Ahnung haben.“ Drei Jahre später erscheint ihr Aufsatz Die Ilias oder das Poem der Gewalt. Die Erfahrungen des Leids prägen sie tief. Während ihrer Zeit in der Fabrik ist ihr „das Unglück der anderen in Fleisch und Seele eingedrungen“. Ihr Denken nimmt pessimistische Züge an, sie hat ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Rationalismus. Nach einer mystischen Erfahrung wendet sie sich dem Christentum zu, der „Religion der Sklaven“ – ohne sich jemals taufen zu lassen. Der Krieg zwingt sie, ins Exil zu gehen. Sie will der Gewalt der Geschichte direkt die Stirn bieten und engagiert sich bei den Freien Französischen Streitkräften. Zur moralischen Unterstützung der Truppe schlägt sie De Gaulle vor, ein Korps aus Krankenschwestern an die vorderste Front zu schicken. Kurz darauf stirbt sie, am 24. August 1943. Ihre großen Werke Schwerkraft und Gnade sowie Die Verwurzelung erscheinen posthum. •