Squid Game: Tauziehen in der Hölle
Squid Game ist die erfolgreichste Netflix-Produktion aller Zeiten. Trotz rohster Gewaltdarstellung erreicht die dystopische Serie vor allem ein junges Publikum. Wir haben untersucht, was der kapitalismuskritische Hit aus Südkorea philosophisch zu bieten hat.
Würden Sie Ihr Leben riskieren und hunderte von Menschen töten, um 33 Millionen Euro zu gewinnen? Die Serie Squid Game zeigt Menschen, die diese Frage mit ja beantworten. Allerdings nicht aus freien Stücken. Vielmehr werden 456 Menschen entführt und gegen ihren Willen zu „Spielern“ eines sechsteiligen Turniers gemacht.
Nach Bong Joon-hos Filmen Snowpiercer sowie dem oscarprämierten Parasite prangert nun eine weiter koreanische Produktion die Verwerfungen sozialer Ungleichheit an. Squid Game ist dabei eine ultra-gewalttätige Serie, die sich schon jetzt mit mehr als 111 Millionen Zuschauern in den Kanon des Slasher-Genres eingeschrieben hat. Teils besticht die Serie mit raffinierten Kameraeinstellungen und Handlungssträngen. Teils aber auch durch Anleihen, die die Serie an Filmen wie Fukasakus Battle Royale, Pasolinis Die 120 Tage von Sodom, der Hunger Games-Saga oder dem japanischen Klassiker As the Gods Will nimmt. Doch auch philosophisch hat die Serie einiges zu bieten und verdient in mindestens drei Aspekten nähere Betrachtung.
Eine kapitalistische Dystopie
Squid Game sieht aus, als hätte Marquis de Sade ein Konzentrationslager mit bunten Girlanden und Kinderspielzeug entworfen. Trotz des überdrehten Looks der Serie ist ihr Thema alles andere als neu. Es geht um Geld und die Tatsache, dass die Aussicht auf Reichtum Menschen innerhalb einer kapitalistisch entfesselten Gesellschaft buchstäblich um den Verstand bringen und schließlich zu Sklaven machen kann. Die 456 Teilnehmer der „Spiele“ werden auf einer Insel gefangen gehalten und von schwer bewaffneten Wächtern kontrolliert – deren Ästhetik übrigens Figuren aus Haus des Geldes verdächtig ähnlich ist. In sechs aufeinanderfolgenden Turnieren kämpfen sie ums Überleben. Denn die Verlierer müssen nicht etwa auf die Bank, sondern werden mit scharfer Munition eliminiert. Von Ochs am Berg über Tauziehen und Murmelspielen bis hin zum namensgebenden Squid Game (dem „Tintenfischspiel“) setzen sich alle Turniere aus brutalisierten Kinderspielen zusammen, die nicht nur in Korea sehr beliebt sind.
Prinzipiell lassen sich an Dystopien wie Squid Game zwei Deutungsmuster anlegen. Entweder beschreibt die Serie auf überzeichnete, jedoch an sich nachvollziehbare Weise die Schrecken einer Welt, die bereits existiert, deren Grausamkeiten wir aber künftig entgehen könnten, würden wir unsere Situation erkennen und ändern. Oder sie beschreibt eine Zukunft die eintreten könnte, wenn wir nichts tun. Im Fall von Squid Game liegt ersteres näher: Die Teilnehmer haben ein genau identifiziertes Sozialprofil wie wir es von sozialen Kreditsystemen kennen. Sie werden als „Arbeiter“ und ihre Vorgesetzten als „Manager“ bezeichnet. Und auch das Prinzip einer Riesenlotterie verweist auf bereits existierende staatliche Lotterien. Die Aussage eines älteren Mannes, der als „Häftling Nr. 1“ bezeichnet wird, untermauert diese Einschätzung: „Die Außenwelt ist barbarischer [als das Lager]".
Was ist es also für eine Welt, die die Serie darstellt und die uns das Fürchten – und Nachdenken – lehren soll? Es mag abgedroschen klingen, doch es ist die Welt des Neoliberalismus, die Welt der Finanzialisierung, eine Welt, in der Arbeit den absolut höchsten Wert darstellt. Menschen werden aufgefordert, ihre Mitmenschen auf grausame, vom Markt vorgeschriebene Weise zu übertreffen und auszuschalten. Entsprechend kommt die Welt der Serie dem sehr nahe, was Barbara Stiegler in ihrem Buch Il faut s'adapter („Es ist nötig, sich anzupassen“) schon jetzt in unserer Gegenwart anprangert: Sie beschreibt nämlich eine Gesellschaft, die eine Art Wirtschaftsdarwinismus fördert, der darauf abzielt, „eine unzulängliche menschliche Spezies in eine Gruppe flexibler Individuen zu verwandeln, die sich dem beschleunigten Wandel immer besser anpassen kann.“ Nur die Stärksten kommen weiter: Manchmal muss man körperlich stark sein, manchmal klug, manchmal mutig, sodass der Gewinner all diese Eigenschaften gleichermaßen aufweisen muss. Vor diesem Hintergrund werden die physischen Tode der Serienfiguren als Metaphern für die sozialen Tode in der realen Welt deutlich.
Ein ambivalentes Lob des Spiels
Ein weiterer interessanter Aspekte von Squid Game liegt in der intelligenten Verbindung von Kapitalismuskritik mit einer Reflexion über das Spiel. Denn beides, die entfesselte Marktwirtschaft und das Spiel, sind keineswegs Gegensätze: Investmentbanker haben oft Spaß daran, Risiken einzugehen. Unternehmer hoffen, ihre Konkurrenten auszuschalten. Und die Weltwirtschaft als ganze unterliegt Regeln, die von allen geteilt werden sollten, damit das Spiel funktioniert. Zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn einige finden immer Grauzonen, in denen sie Regeln dehnen und sich einen Vorteil verschaffen können. Doch ist es wirklich überraschend, dass der Kapitalismus auch nach Logiken des Spiels funktioniert? In Also sprach Zarathustra (1883) versichert Nietzsche, dass das Spiel eine Möglichkeit ist, sein Leben voll und intensiv zu leben: „Zweierlei will der echte Mann: Gefahr und Spiel. [...] Im echten Manne ist ein Kind versteckt; das will spielen.“ Getreu diesem Motto lauten die letzten Worte, die sterbende Spieler in Squid Game zu ihrem Nebenmann sagen, oft: „Danke, dass du mit mir gespielt hast.“ Als ob das Leben ein Spiel wäre, bei dem man den Tod riskiert.
Dass wir unseren Spieldrang mit dem Erwachsenwerden nicht verlieren, scheint evident. Oder verläuft etwa keine gerade Linie vom Kind, das Pokémon oder Mikado spielt, zum Google-Mitarbeiter, der einen Code möglichst schnell schreiben möchte oder einem Aktionär, der auf dieses oder jenes Unternehmen wettet? Nicht unbedingt, denn der wichtige Unterschied ist Geld. Und genau hier geht Nietzsche zufolge oft alles schief. Für den Philosophen muss das Spiel notwendigerweise unproduktiv sein, weil es vom Menschen gerade deshalb erfunden wurde, um dem Imperativ der Arbeit zu entkommen: „Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maß seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heißt die Arbeit, welche kein anderes Bedürfnis stillen soll als das nach Arbeit überhaupt.“ (Menschliches, Allzumenschliches, 1878) Kurzum: Die Arbeit im Modus des Spiels zu denken, bedeutet, den Geist des Spiels zu verraten. Es bedeutet auch, sich selbst dazu verdammen, unglücklich zu bleiben, weil man nie die freien Momente nutzen kann, durch die man sich über die Ebene bloßer Pflicht erheben könnte.
In den Augen der Schöpfer von Squid Game besteht die größte Grausamkeit unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems darin, dass wir gezwungen sind, etwas als Spiel zu spielen, was kein Spiel sein sollte. Im Kapitalismus zu überleben, ist schon hart genug für die, die es schaffen. Und es ist unerträglich, bisweilen vernichtend für diejenigen, die zurückbleiben. Die Grausamkeit der Spiele rührt damit nicht zuletzt von der Einstellung her, dass diejenigen, die verlieren, es ja auch verdient haben. Denn ist man nicht selbst das beste Beispiel dafür, dass man es auch schaffen kann? Sind es nicht in jedem Fall die Reichen und Schönen? Es gibt Gewinner, man muss sich nur anstrengen. Sadistisch zu sein, bedeutet, Regeln aufzustellen, von denen man weiß, dass sie diejenigen, denen man sie auferlegt, leiden lassen. Wer nicht liefert, ist geliefert.
Ein Gleichnis über die Härte des Lebens
Über die Kapitalismuskritik hinaus stellt Squid Game schließlich noch eine grundlegendere, existenzielle Frage zum menschlichen Sein. Obwohl sich die Serie aus politischen und kulturellen Elementen unserer Zeit zusammensetzt und diese recht offen kritisiert (Stichworte: digitale Überwachung, Gamifizierung als Terror, Frauenfeindlichkeit, Unterdrückung sexueller Impulse etc.), porträtiert sie abseits all dessen auch gescheiterte Existenzen, die auf irrigen Pfaden wandeln und fragt, ob es sich hierbei wirklich um Ausnahmen handelt. Haben wir es hier mit bedauernswerten Querschlägern zu tun oder sind wir als Menschen per se in Regeln gefangen, die der Grausamkeit der Spiele in nichts nachstehen? Ob man nun in einer konkurrenzgetriebenen Leistungsgesellschaft, einer kommunistischen, einer totalitären oder einer demokratischen Gesellschaft lebt – ist die erste und wichtigste Voraussetzung nicht immer das Überleben?
Diese pessimistische Sicht auf die menschliche Existenz ist es, die das fiktive Lager der Serie und das reale Leben verbindet. Alles ist schwer, egal, was es ist. Selbst die Reichen langweilen sich und wissen nicht, wie sie sich die Zeit vertreiben sollen. Man denke an Thomas Hobbes, der in seinem 1650 publizierten Werk Menschliche Natur und politischer Körper bemerkte, dass das menschliche Leben einem Wettlauf gleiche, in dem es nur darum gehe, andere zu übertrumpfen. Ständig müsse man streben. Wer überholen könne, sei glücklich, wer zurückbleibt, verloren. Ein Spieler bringt diese Auffassung in der Serie auf den Punkt: „Man vertraut den Menschen, nicht weil sie zuverlässig sind, sondern weil man keine andere Wahl hat.“
Dennoch stellt sich freilich die Frage, was denn alle diese Kritik einer Netflix-Serie wert ist? Ist Squid Game am Ende purer Zynismus, weil es auf ein System einprügelt, dem es genau dadurch nützt? Ist Netflix doch unschwer als ein prototypisches Unternehmen des Neoliberalismus zu erkennen, das kommerzielle Produkte herstellt und Algorithmen nutzt, bis seine Kunden süchtig vor den vorgeschlagenen Inhalten sitzen wie ein Spieler vor dem Automaten. Der Erfolg der Serie zeigt ein weiteres Mal – falls man noch daran gezweifelt hat –, dass es dem Kapitalismus mühelos gelingt, alles, absolut alles, zu verdauen und seine eigene Kritik problemlos in sich zu integrieren: Black Mirror, Haus des Geldes, Orange Is the New Black, Lupin – all diese Serien erzeugen zwar jeweils ein Medienecho, doch verpufft ihre Wirkung oft bereits beim letzten Abspann. Und am Ende profitiert Netflix. •