Vier Philosophien des Pazifismus
Von seinen Gegnern wurde Pazifismus oft als Naivität, Feigheit oder sogar als Beihilfe zu Verbrechen bezeichnet – als Untätigkeit, die dem Krieg freien Lauf lässt. Aber stimmt das? Wir lassen diejenigen antworten, die über das Konzept nachgedacht haben – von Tolstoi bis Weber.
Tolstoi und die Gewaltlosigkeit
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden verschiedene Strömungen des Pazifismus. Alle beruhten auf der Idee, dass eine kriegerische Politik nicht der richtige Weg sei, um den Frieden herzustellen. Die Idee der Gewaltlosigkeit stammt aus einer Strömung des Christentums, die sich von den Institutionen der Kirche distanzierte, um zu einer größeren Spiritualität zurückzukehren. Ein wichtiger Vertreter dieser Strömung des Pazifismus ist der russische Schriftsteller Leo Tolstoi. Er entwickelte eine Doktrin der Gewaltlosigkeit, die auf seinem kritischen und humanistischen Verhältnis zur Religion beruht.
Auf der Suche nach dem ursprünglichen Geist des Christentums – das die Schwachen verteidigt und Gewalt ablehnt – entwickelte Tolstoi eine Kritik des Krieges. Grundlegend sind seine Erfahrungen im Krimkrieg zwischen 1853 und 1856, die er in der Novellensammlung Sewastopoler Erzählungen schildert. Seine Beschreibungen von Massengräbern, Bombenangriffen und Verwundeten zeugen von seiner Abneigung gegen die Verheerungen des Krieges. Dieser spirituelle und humanistische Pazifismus fand weltweit Anhänger. Die sogenannten „Tolstoi-Jünger“ waren Gläubige, die sich gegen religiöse Institutionen wandten und für eine gewaltfreie Askese aussprachen. Zu ihnen gehörte auch Mahatma Gandhi.
Alain und die Sinnlosigkeit des Krieges
Infolge der grausamen Kriege des 20. Jahrhunderts gewinnt eine weitere Doktrin der Gewaltlosigkeit an Zuspruch und führt zur Entwicklung einer pazifistischen Bewegung, insbesondere in der Philosophie. Einer der wichtigsten Friedensdenker ist der französische Philosoph Alain. In seinem Pamphlet Mars oder Die Psychologie des Krieges, das drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlicht wurde, wendet er sich gegen die Rhetorik, dass man im Namen des Friedens Krieg führen könne: „Wenn der Völkerbund unfähig ist, den Frieden zu erhalten, ist das nicht die Schuld der Gendarmen, sondern geschieht im Gegenteil, weil er seine Gendarmen vorrücken lässt. Die Ehre verbietet es, der Bedrohung nachzugeben.“ Alain zeigt sich kritisch gegenüber denjenigen, die den Krieg zur Verteidigung ideeller Werte anpreisen: „Schaut nicht so sehr auf die Laster, sondern hütet euch vor der Tugend. Es ist die Tugend, die in den Krieg zieht.“
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