Vom Animismus lernen
Der Animismus galt einst als Denkfehler primitiver Völker, deren Rationalität noch unzureichend entwickelt sei. Doch angesichts der ökologischen Krise zeigt sich heute: Der Animismus könnte den Weg aus der Verdinglichung der Natur weisen. Eine Spurensuche auf den Pfaden indigener Kulturen.
Große Krisen unserer Gegenwart – die Klimaerwärmung, das Artensterben – zeugen von einem massiven Problem in unserem Verhältnis zur Natur. Zugleich verbleiben fast alle gegenwärtigen Bewältigungsversuche dieses Problems innerhalb der Logik des westlichen kapitalistischen Weltbezugs: Anstatt das Wachstumsparadigma und den Konsumismus zu überdenken, werden „nachhaltige Energien“ als neuer Wirtschaftssektor gefördert oder Möglichkeiten des Geoengineering erprobt. Bei Lichte betrachtet werden solche Reparaturmaßnahmen wohl einigen ein ruhiges Gewissen und reichen Gewinn verschaffen, kaum aber das grundsätzliche Problem lösen. Man führe sich nur vor Augen, dass Elektroautos neben seltenen Erden offensichtlich Strom benötigen, bei dem auch bei jetzigem Bedarf unklar ist, wie er zuverlässig durch erneuerbare Energien gedeckt werden soll. Selbst Windkraftanlagen zaubern wiederum keineswegs Strom aus dem Nichts herbei, sondern töten Greifvögel und Insekten und lassen sich bisher nicht vollständig recyceln. Die ganze Idee eines „techno fix“ (Donna Haraway) verbleibt innerhalb einer Ontologie, für die „die Natur“ den Menschen als ausbeutbares Objekt unverbunden gegenübersteht.
Um die Selbstverständlichkeit dieses Weltbezugs zu durchbrechen, hilft es, sich mit Kulturen zu befassen, die einen grundlegend anderen Bezug zur Umwelt haben. Das trifft in besonderer Weise auf die animistischen Kosmologien indigener Völker zu, die der aufklärerischen Rationalität als minderwertig gelten. Als die Ethnologen im 19. Jahrhundert den Begriff Animismus einführen, um den Glauben an die Beseeltheit von Pflanzen, Tieren und Dingen zu bezeichnen, hat er eine diskriminierende Konnotation. Sie deuten den Animismus als Denkfehler, durch den das subjektive Innenleben in die Außenwelt „projiziert“ wird. Die „Primitiven“ hätten noch nicht gelernt, zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden und deshalb blieben ihre Versuche, die Natur zu verstehen und zu kontrollieren, kläglich unbeholfen. Für die Europäer, so dachte man, sei die Beschäftigung mit dem Animismus insofern interessant, als sie einen Blick zurück in die eigene Vergangenheit, auf eine „niedrige Kulturstufe“ (Edward Tylor) ermögliche.
Auch heute noch verbinden viele mit dem Schlagwort „Animismus“ eine kognitive Schwäche, die im besten Fall von Rückständigkeit, Verschrobenheit oder esoterischer Verblendung, im schlechten Fall von einer Geisteskrankheit zeugt. Doch die Anthropologen und Philosophen sind mit solchen Wertungen inzwischen sehr viel vorsichtiger geworden. Trifft die Zuschreibung eines „primitiven Narzissmus“ (Freud) nicht eher auf westliche Kulturen zu, in denen Menschen davon ausgehen, die einzigen relevanten Akteure zu sein? Ist nicht spätestens seit Bekanntwerden der Klimaerwärmung unübersehbar, dass die Natur kein passives, beliebig manipulierbares Objekt ist? Tatsächlich hat die spätmoderne Theoriebildung die inspirierende Kraft animistischer Vorstellungen längst aufgegriffen: Bereits in den 1970er-Jahren haben James Lovelock und Lynn Margulis die Gaia-Hypothese aufgestellt: Die Erde sei ein Lebewesen, das sich selbst reguliert. Auch in der zeitgenössischen Philosophie und Soziologie nimmt die Auseinandersetzung mit dem Animismus zu.
Beseelte Natur
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