Wem die Stunde schlägt
Ein isländisches Unternehmen hat eine Methode entwickelt, mit der sich vergleichsweise akkurat die restliche Lebenszeit von Menschen berechnen lässt. Grund genug für ein Gedankenexperiment: Was, wenn wir tatsächlich exakt wüssten, wie lange wir noch zu leben haben?
Die menschliche Lebenszeit ist begrenzt; irgendwann geht es mit uns allen zu Ende. Wann genau es so weit ist, weiß indes keiner so genau. In der griechischen Mythologie waren es drei Schwestern, die Parzen, die die Antwort auf diese Frage buchstäblich in ihren Händen hielten – in Gestalt eines jedem Sterblichen zugedachten feingesponnenen Fadens. Die Aufgaben der drei – daran erinnert Harald Weinrich in seinem 2004 erschienenen Buch Knappe Zeit – Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens – waren klar verteilt: Klotho, die Jüngste, hatte ihren Platz am Spinnrad, Lachesis, die Mittlere, ließ den Lebensfaden durch ihre Hände laufen und wickelte ihn behutsam auf, und Atropos, die Älteste der dreien, schnitt ihn, wenn das Ende gekommen war, beherzt ab. Wann genau das war, wussten nicht einmal die Götter. Der individuelle Todeszeitpunkt bleibt ein Geheimnis, das die drei Schwestern bis heute hüten.
Vielleicht könnte damit jedoch bald Schluss sein: Das isländische Unternehmen deCODE Genetics hat eine Methode entwickelt, die Wissenschaftler:innen in die Lage versetzt, den Parzen bei ihrem Werk über die Schulter zu schauen. Basierend auf Proteinmessungen, erlaubt die jüngst in dem Fachjournal Communications Biology vorgestellte Methode eine wesentlich präzisere Bestimmung der verbleibenden Lebenszeit als alle bisher bekannten Verfahren. So gelang es dem Unternehmen, in einer Gruppe von 60- bis 80-Jährigen die fünf Prozent mit dem höchsten Todesrisiko innerhalb der nächsten zehn Jahre und die fünf Prozent mit dem geringsten Todesrisiko mit einer beeindruckend hohen Trefferquote zu identifizieren. Aus philosophischer Sicht wirft diese Erfolgsmeldung eine interessante Frage auf: Was wäre, wenn wir eines Tages tatsächlich in der Lage wären, unsere restliche Lebenszeit exakt zu bestimmen? Wie würde sich das menschliche Dasein dadurch verändern – individuell und kollektiv?
Aufruf in die Eigentlichkeit
Auf individueller Ebene kommt es natürlich ganz darauf an, wie die Prognose ausfällt. Stellen wir uns – als Gegenstück zu den drei außergewöhnlichen Schwestern – drei relativ gewöhnliche Männer vor, alle im Alter von 45 Jahren, denen jeweils unterschiedliche Lebenserwartungen prognostiziert werden: fünf Jahre dem ersten, fünfzehn dem zweiten, und fünfundvierzig dem dritten. Es steht zu vermuten, dass die Prognose das Leben des ersten am meisten beeinflussen würde: Fünf Jahre sind eine knappe Zeit. Also gilt es, keine weitere Zeit zu verlieren! Schluss mit den Nebensächlichkeiten, Schluss mit dem Quatsch, wozu noch in die Rentenkasse einzahlen und wozu überhaupt arbeiten, wenn das Ersparte doch reicht und der Job sowieso keinen Spaß macht?
Diese Haltung entspricht ganz dem, was der Philosoph Martin Heidegger als „Aufruf in die Eigentlichkeit“ bezeichnen würde: eine authentische Existenzform, aus dem alles Unwesentliche und jede fade Ablenkung getilgt ist. Das klingt zwar verlockend, zugleich aber auch ziemlich anstrengend. Zudem besteht die Gefahr, dass das „eigentliche“ Dasein in einen ganz anderen Modus umkippt: den eines komplett durchgeplanten und durchverwalteten Lebens, das ganz auf maximale Zeitressourcennutzung und existentielle Effizienz getrimmt ist. Da kann man schon fast von Glück reden, dass der Aufruf in die Eigentlichkeit vermutlich umso leiser wird, je höher die prognostizierte Lebenserwartung ausfällt: Wer weiß, dass er noch fünfzehn oder fünfundvierzig Jahre zu leben hat, kann die Richtungsentscheidungen im Leben etwas besonnener angehen. So würde Mann Nummer zwei, der, dem noch fünfzehn Jahre bleiben, vielleicht seine Riesterrente kündigen, aber durchaus in Betracht ziehen, ein neues Sofa zu kaufen. Und der dritte im Bunde würde möglicherweise gar nichts groß ändern. Schließlich hat er noch genug Zeit. Die wichtigen Entscheidungen lassen sich da auch gerne verschieben.
Sich selbst widerlegende Prognose
Wirklich interessant wird das Gedankenexperiment, wenn man die Möglichkeit zulässt, dass die Prognose das Prognostizierte beeinflusst. Wer weiß, dass er noch lange zu leben hat, lässt das tägliche Fitnessprogramm vielleicht eher schleifen, langt beim Essen besonders zu und sorgt sich nicht ums Trinken und Rauchen. Was wiederum zur Folge hat, dass sich die Lebenserwartung drastisch verringert. Würde man die drei Herren nach einem Jahr an einen gemeinsamen Tisch bitten, wäre es also durchaus denkbar, dass ausgerechnet der, dem das längste Leben beschieden wurde, den ungesündesten Eindruck macht. Gleich, ob man ein Orakel befragt oder die moderne Wissenschaft, in Handflächen liest oder in Proteinen: Das Ende bleibt offen. Den Göttern sei Dank! •
Fabian Bernhardt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs „Affective Societies“ an der FU Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Rache – Über einen blinden Fleck der Moderne“ (Matthes & Seitz, 2021).
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