Erfundene Erkenntnis
Derzeit kommt diskurstreibendes Denken oft aus der Soziologie, Biologie oder Informatik. Selten aber aus der Philosophie. Kein Wunder, meint Martin Krohs und fordert, das Philosophieren wieder als „Wahrheitskunst“ zu begreifen.
„In meiner philosophischen Forschung untersuche ich ...“ – diese Worte liest man regelmäßig auf den Mitarbeiterseiten philosophischer Institute. Wie schade.
Denn wie will man durch Forschung zur Erfrischung der Philosophie beitragen? Wie konnte die Philosophie überhaupt auf die Idee verfallen, Forschung sei ihre Kernaufgabe? – Nun gut, vielleicht muss jede Disziplin, die in unserer akademischen Bürokratie überleben will, sich das Schildlein Forschungswissenschaft um den Hals hängen. Aber im Fall der Philosophie ist das ein Selbstbetrug. Philosophie forscht nicht, sie erfindet. Das allerdings tut sie nicht nach eigenem Gutdünken, sondern gebunden an Wahrheit und Wissen. Sie erfindet also etwas, das den Anspruch erhebt, wahr zu sein: Die Philosophie generiert erfundene Erkenntnis.
Erfundene Erkenntnis – dieser Selbstwiderspruch ist konstitutiv für die Philosophie, und sie sollte ihn sich selbstbewusst auf die Fahnen schreiben. Denn wenn sie ihr Erfindertum schamvoll ausblendet, wenn sie blind der Wissenschaft nacheifert und sich ihr so willig andient wie ihrer vorigen Dienstherrin, der Theologie, dann bringt sie sich um ihr wertvollstes Kapital: um die Kraft zum Entwurf.
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Kommentare
Ich schätze, die Nähe zur Wissenschaft soll weltliche Belastbarkeit tendenziell erhöhen.
Was Philosophie tendenziell stabiler machen kann scheint mir das Wahren von epistemologischer Bescheidenheit, damit meine ich das Formulieren von realistischen Graden von Gewissheiten, um etwas Beweglichkeit in der Vorstellung eines philosophischen Konstruktes zu erhalten.
Beide Herangehensweisen können vielleicht bis zu einem gewissen Grade helfen, Philosophie der Weisheit zugewandt zu halten.
Was thematisch jenem Ziel dienlich sein könnte, wäre vielleicht
-das Versuchen von wahrscheinlich Bestem für alle, da diese Aktivität meiner Vorstellung nach tendenziell besonders gemeinnützige Erfahrungen generieren und regenerieren kann (Beispiel Gandhi), und
-das Versuchen von wahrscheinlich ausreichender Befreiung für sich und seine Gruppen, da es meiner Vorstellung nach tendenziell Lebensweisheit generieren und regenerieren kann (Beispiel Thoreau).
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.