Brauchen wir Intimität?
Die meisten Menschen sehnen sich danach, einige fürchten sie. Doch sind wir wirklich so sehr auf intime Beziehungen angewiesen? Hier drei philosophische Positionen.
„Ja, um gemeinsam zu wachsen“
Aristoteles
(384 – 322 v. Chr.)
Innige und tiefer gehende Bindungen sind für den griechischen Denker elementarer Bestandteil eines erfüllten Lebens. Neben wohlwollenden Beziehungen, die sich lediglich aus einem Streben nach Nutzen oder nach kurzfristigen Lusterlebnissen ergeben, zeichnet sich die vollkommenste Art der Freundschaft durch eine intime Verbundenheit aus. Hier schätzen die Menschen einander wert, vertrauen sich und entwickeln sich zusammen weiter. Diese Merkmale lassen sich auch auf den Bereich des Politischen übertragen: Für Aristoteles ist intime Freundschaft ebenso eine Tugend der bürgerlichen Gemeinschaft, die diese erhält, indem sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Identifizierung schafft.
„Ja, denn nur so werden wir ganz Mensch“
Emmanuel Lévinas
(1906 – 1995)
Intimität ist immer, so Lévinas, eine „Intimität mit jemandem“. Sie setzt die Gegenwart eines anderen voraus, dem wir Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Liebe oder Freundschaft kann nur entstehen, wenn wir den anderen als solchen annehmen und respektieren, dass wir ihn nie vollständig verstehen werden. Durch diese Zuwendung zum anderen werden wir überhaupt erst zu ethisch Handelnden. Denn die Intimität definiert unser Verhältnis zur Welt neu, indem sie erfordert, das Gute für unsere Mitmenschen mehr zu wollen als für uns selbst. Damit existiert letztlich auch unsere Freiheit nur als Verantwortung für den anderen.
„Nicht im öffentlichen Leben“
Richard Sennett
(*1943)
Dem Soziologen zufolge sollte die Öffentlichkeit eine Sphäre darstellen, in der wir den anderen als Fremde begegnen. Doch seit dem 19. Jahrhundert sind solche öffentlichen Räume durch den Einfluss des Intimen immer weiter zurückgedrängt worden. Im Fokus steht heute das Individuum mit seinen persönlichen Belangen und Gefühlslagen, Gesellschaft wird reduziert auf einen „Akt der gegenseitigen Selbstoffenlegung“. So geht die gesunde Distanz zum eigenen Ich und dem anderen verloren und das öffentliche Leben verkümmert. Damit die „Tyrannei der Intimität“ nicht die Überhand behält, muss die öffentliche Sphäre verändert und das Intime dorthin verwiesen werden, wo es auch wirklich hingehört: in den Bereich des Privaten. •
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