Das Ende der Deliberation
Jürgen Habermas beobachtet einen Verfall der politischen Öffentlichkeit. Aufhalten will er ihn durch öffentlich-rechtliche Medien. Ob das gelingen kann, ist fraglich.
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit ist Jürgen Habermas’ meistverkauftes Buch und der zeitdiagnostische Ausgangspunkt späterer Theorien, etwa des kommunikativen Handelns oder transnationalen Regierens. Entsprechend hellhörig sollte man werden, wenn Habermas heute, 60 Jahre danach, Revisionsbedarf an seiner Theorie anmeldet, was er im vergangenen Herbst in der Zeitschrift Leviathan getan hat. Nun liegt der Aufsatz in Buchform vor, ergänzt um zwei Interviews zum Deliberationsideal, die den Text sozialtheoretisch einbetten.
Dialektik der Beteiligung
Was ist passiert? Warum greift Habermas noch einmal zur Feder? Unter dem Druck der Digitalisierung, so seine Beobachtung, ist in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eine neue Form von Öffentlichkeit entstanden, die mit den alten Regeln bricht. Tageszeitungen verlieren dramatisch an Auflage, während sich soziale Medien wie Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram zur Hauptinformationsquelle entwickelt haben. Dort zirkulieren die Informationen befreit vom journalistischen Ethos der Wahrheitsprüfung und der zeitungslogischen Verpflichtung aufs Allgemeine, die früher einmal galt: „[M]it ihrem Fluss von täglich erneuerten Informationen und Deutungen bestätig[t]en, korrigier[t]en und ergänz[t]en die Medien laufend das unscharfe alltägliche Bild einer als objektiv unterstellten Welt.“ Heute hingegen „entsteht in jenen spontan selbstgesteuerten und fragmentierten Öffentlichkeiten, die sich sowohl von der redaktionellen oder offiziellen Öffentlichkeit als auch voneinander abspalten, ein Sog zur selbstbezüglich reziproken Bestätigung von Interpretationen und Stellungnahmen.“
Alle User werden zu Autoren, aber nicht zu Redakteuren. Qualitätsfilter fallen weg. Dies sorgt für eine Informationsflut, die auf Skandalisierung und Dauerregung angewiesen ist, um das Material noch irgendwie zu ordnen. Tendenzen der „Entpolitisierung“ der Öffentlichkeit, schon immer vorhanden, schlagen nun voll durch. Es kommt zu personalisierten Zuspitzungen, Inszenierungen, einer Privilegierung der entertainerischen Hülle auf Kosten des sachlichen Kerns. Politiker passen sich an und tummeln sich in sozialen Medien wie Volkstribune in plebiszitär-schwankenden Öffentlichkeiten. Diese ist, obwohl jeder mitmachen kann, nicht mehr inklusiv, geduldig und themenorientiert, sondern erratisch und auf der falschen Fährte, weil sie politische Fragen nicht erkennt. Letztlich verhindert sie Beteiligung.
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