Das Sumimasen-Prinzip
In der westlichen Kultur ist das Ich das Zentrum der Freiheit. Japan ist von einer anderen Geistesgeschichte getragen, mit weitreichenden Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander. Durch eine Kultur der vorauseilenden Deeskalation und gegenseitiger Rücksichtnahme offenbart sich der urbane Alltag in Tokio nämlich wesentlich angenehmer und sozialverträglicher als in Berlin oder New York. Gerade in diesen Zeiten sollte uns das ein Vorbild sein.
Angesichts der aktuell extrem emotional geführten Komplementärdebatten um Rassismus/Kolonialismus einerseits und kulturelle Identitäten andererseits, ist nahezu jede Aussage über die Eigenarten einer Kultur, Religion oder Volksgruppe, der ich selber nicht angehöre, heikel. Unabhängig davon wird weiterhin jeder, der fremde Länder bereist, zu der banalen Feststellung gelangen, dass dort andere Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten, Unmöglichkeiten herrschen, und natürlich wird er versuchen, die Unterschiede zu beschreiben, zu ordnen und zu verstehen. Diese Beobachtungen und Beschreibungen verfestigen sich im Laufe der Zeit zu brauchbaren Charakterisierungen und sachdienlichen Empfehlungen, aber natürlich auch zu lästigen Klischees und fatalen Missverständnissen. „Die Japaner“ gelten als höflich, distanziert, diszipliniert, perfektionistisch und undurchschaubar, sie folgen überaus komplizierten Regelsystemen, die ein Fremder niemals begreifen, geschweige denn beherrschen wird, und früher begingen sie schon nach mittelschweren Fehlern feierlich Selbstmord, um ihre gesellschaftliche Reputation final wiederherzustellen.
Zu den emblematischen Bildern des Landes gehören Menschen, die mit einem Mund-Nasen-Schutz in überfüllten U-Bahnen sitzen. In Japan wurden derartige Masken schon vor der Coronapandemie auch außerhalb von Operationssälen getragen. Diese Eigenart fügte sich nahtlos in die westliche Vorstellung japanischer Zwanghaftigkeit, die – entsprechend den Mustern wiederum westlicher Psychologie – unweigerlich zu Angststörungen führte, die sich lehrbuchmäßig in übersteigerten Hygienebedürfnissen zeigten. Dass es sich womöglich anders verhält, begann ich zu ahnen, als mir der Keramiker Jan Kollwitz vom Bau seines Anagama-Ofens an der Ostsee durch den berühmten Ofenbaumeister Watanabe Tatsuo 1988 erzählte.
Watanabe musste sich während dieser Zeit zwei Wochen lang in der Uniklinik Lübeck behandeln lassen. Nach einigen Tagen fand Kollwitz die deutschen Zimmernachbarn des Meisters in heller Aufregung. Seit dem Morgen hatte Watanabe mit eben so einem Mund-Nasen-Schutz, von denen er natürlich einige im Gepäck hatte, in seinem Bett gelegen. Die Deutschen gingen selbstverständlich davon aus, dass der Japaner sich damit gegen Krankheitserreger schützen wollte, die von ihnen verbreitet wurden, und waren äußerst empört. Kollwitz hatte große Mühe, ihnen glaubhaft zu machen, dass Meister Watanabe keineswegs von Angst vor Ansteckung umgetrieben wurde, sondern im Gegenteil selbst ein Kratzen im Hals spürte und die Maske angelegt hatte, um seine Mitpatienten nicht zu infizieren.
Auch mir erschien Watanabes ehrenwertes Ansinnen damals eher wie Schrulligkeit, während ich weiterhin davon ausging, dass es kollektive Hypochondrie sein musste, die den Grund für den japanischen Maskentick bildete. Der Gedanke, dass sich die Bevölkerung eines Landes darauf geeinigt haben könnte, bedingungslose Rücksichtnahme in der Öffentlichkeit zur obersten Handlungsmaxime zu erheben, kam mir nicht in den Sinn, und vor meinem ersten Besuch des Landes, 2019, hätte ich mir auch nicht vorstellen können, welche ungeheuren Auswirkungen eine derartige Werteverschiebung für das öffentliche Leben bedeutet.
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Das Sumimasen-Prinzip
In der westlichen Kultur ist das Ich das Zentrum der Freiheit. Japan ist von einer anderen Geistesgeschichte getragen, mit weitreichenden Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander. Was können wir von dem fernöstlichen Land lernen – gerade jetzt?

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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

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Zur Person
Yascha Mounk, ist Politikwissenschaftler und Associate Professor an der Johns-Hopkins-Universität. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und die ZEIT. 2022 erschien sein Buch Das große Experiment. Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert (Droemer). Nun ist mit Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee (Klett-Cotta) sein neues Buch erschienen. Seit ein Vorwurf der Vergewaltigung gegen ihn bekannt wurde, lässt Yascha Mounk, der diesen Vorwurf zurückweist, sein Amt als Herausgeber der ZEIT vorerst ruhen.

Roger Berkowitz: „Dieser Wahlkampf zeugte vom Ende einer ‚gemeinsamen Welt‘“
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