Die daoistische Queen
Am 8. September 2022 ist Königin Elisabeth II. gestorben. Das Erfolgsrezept der Queen bestand im daoistischen Prinzip des Nicht-Handelns, wie die Netflix-Serie The Crown zeigt.
Die vierte Staffel der Netflix-Serie The Crown behandelt die 1980er Jahre, in denen besonders zwei Ränkespiele das britische Königshaus auf Trab halten. Zum einen die wechselhaften Beziehungen zwischen Elisabeth II. und Premierministerin Margaret Thatcher. Zum anderen die Eheprobleme von Prinz Charles und Lady Di, der angehenden Ikone, die privat ein Martyrium durchlebt. Das Erfolgsrezept der Serie bleibt dasselbe: detailgetreue Kulisse, hochkarätige Besetzung sowie die sehr freie Interpretation historischer Begebenheiten, welche wiederum zahlreiche Factchecking-Artikel provozierte. Dass sich The Crown ein bisschen zu sehr als Soap Opera offenbart, ändert jedoch nichts an ihrer scharfsinnigen Analyse des royalen Regierungsstils. Eine zentrale Frage lautet dabei: Warum scheint die Königin kaum je zu handeln? Oder anders gesagt: Worauf stützt sich ihre unbestreitbare Autorität, wenn nicht auf Entscheidungen?
Nun stimmt es zwar, dass das Recht und die royalen Gepflogenheiten es der Queen verbieten, sich in Regierungsangelegenheiten einzumischen. Dennoch scheint die Queen hier eine ganz spezifische Form des Nicht-Handelns zu kultivieren, die der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist. Und der philosophische Pate für diese Form der Untätigkeit ist nicht etwa ein britischer Meisterdenker wie John Locke oder Thomas Hobbes, sondern kommt aus China. Gemeint ist der Daoismus, der im Nichtstun die Kardinaltugend des Souveräns sieht. Es scheint nämlich geradezu so, als hätte Elisabeth II. sich mittels der Lehren des Laozi auf ihr Amt vorbereitet. Grund genug also, um dieser filmischen Flaschenpost aus dem antiken China zu folgen und einen Blick auf die daoistische Kunst des Dolcefarniente zu werfen.
Mut zur Unentschlossenheit
In der daoistischen Philosophie entsteht alles aus der Leere. Sie ist der eigentliche Antrieb des Handelns und das Prinzip aller Existenz. Im bekanntesten Text des Daoismus, dem Daodejing, schreibt Laozi (nach der Übersetzung Richard Wilhelms): „Alle Dinge unter dem Himmel entstehen im Sein. Das Sein entsteht im Nichtsein.“ Am Ursprung der Welt befindet sich also reine Negativität. Und diese Sicht auf die Welt wird auch auf den Souverän übertragen: „Darum spricht ein Berufener: Wenn wir nichts machen, so wandelt sich von selbst das Volk. Wenn wir die Stille lieben, so wird das Volk von selber recht. Wenn wir nichts unternehmen, so wird das Volk von selber reich. Wenn wir keine Begierden haben, so wird das Volk von selber einfältig.“ Diese daoistischen Einsichten erinnern gespenstisch an den reduzierten Stil der Windsors. Was mancher bei Her Majesty als fehlendes Profil und Mangel an großen Gesten empfindet, wäre für Laozi good governance. Indem die Queen sich am Nullpunkt einrichtet, behält sie den Überblick.
„Mir sind zwei Familien wichtig, meine eigene und die Familie des Commonwealth. Sie zusammenzuhalten, ist mein Lebenswerk“, bekundet Elisabeth II. in der 8. Episode. Umso mehr verwundert, dass sie keine einzige Entscheidung in diesem Sinne trifft. Das stößt auch ihrer Tochter Anne auf, die der Queen in Episode 4 vorwirft: „Ist Nichtstun deine Lösung für alles?“ Die Antwort auf Annes Frage findet sich in der daoistischen Enzyklopädie Frühling und Herbst des Lü Buwei, in der es (nach der Übersetzung Richard Wilhelms) heißt: „Darum richtet sich ein vernünftiger Herrscher nach den vorhandenen Gepflogenheiten und sucht nichts selber zu machen. Er beauftragt, aber gibt keine Einzelanweisungen. Er meidet das viele Sinnen und die vielen Ideen, er ist still und bescheiden und wartet“. Eine der Schwierigkeiten besteht für die Königin indes darin, zu wissen, ob sie im öffentlichen und privaten Raum in gleicher Weise handeln sollte. Muss sie mit ihrer Tochter ebenso distanziert sprechen wie mit einem Politiker? Als sie versucht, Margaret Thatcher zur Verurteilung des südafrikanischen Apartheidregimes zu bewegen und die Eiserne Lady gereizt „Ist das ein Befehl…?“ fragt, weicht die Königin gekonnt aus und antwortet: „Sehen Sie es als Frage an“. Sie sollte das letzte Wort behalten.
Chamäleon-Taktik
Wenn Elisabeth auf eine Art die Königin des daoistischen „Nicht-Handelns“ ist, dann auch deshalb, weil sie nicht glaubt, die Welt bräuchte sie. Traditionell gilt der Monarch als Mittler zwischen Himmel und Erde. Im Daoismus sind menschliche und himmlische Ordnung allerdings eng verbunden. Regierung wird so zu einer Übung in Passivität, im Zurücktreten gegenüber den Dingen. Nach dem Motto: Go with the flow! Aber woher wissen, dass die Welt da ist, wo ich bin? Wie sich mit dem Lauf der Dinge synchronisieren? Hierfür bedarf es einer Arbeit der Anpassung, die den britischen Hofstaat in Atem hält. Denn genau daher rührt ja der Ärger mit Diana.
Die junge Frau wirkt um so viel moderner als die königliche Familie, in die sie einheiratet. Aus daoistischer Perspektive schafft das eine doppelte Bedrohung: Neben ihr erscheinen die Windsors nicht nur als Ewiggestrige, sondern die Prinzessin von Wales droht auch die Quelle königlicher Autorität trockenzulegen: ihre förmliche, fast steife Distanziertheit. Ein frostiges Dinner wird für Elisabeth II., ihre Schwester Margaret und Anne zum Schauplatz eines Intrigenspiels: „Und überlebt die Krone nicht so? Sie bleibt relevant, solange sie mit der Zeit geht“, fragt Elisabeth. Müssen die Royals Dianas Zeitgeistigkeit übernehmen oder muss die Königin der Herzen in Form und Förmlichkeit gepresst werden? Prinzessin Margaret fällt schließlich das unbarmherzige Urteil: „Und wenn Diana sich beugt, dann passt sie zu uns.“ Auf die Frage der Queen, was passiere, wenn sie das nicht tue, antwortet Margaret wiederum: „Dann zerbricht sie.“ Und, wie wir wissen, ist Diana tatsächlich zerbrochen.
Vom Braten kleiner Fischlein
Die Passivität der Queen wird von einem Geist heimgesucht, vom Geist des Verlusts. Demselben, der im Daodejing sein Unwesen treibt. Verlust der Traditionen, Verlust der Commonwealth-Nationen, Verlust der Einheit des Landes, über das sie herrscht, sollte es zur Spaltung der Familie kommen. Sobald der Souverän eine Entscheidung trifft, riskiert er, einen Teil der Bevölkerung zu verärgern. Je weniger er Partei ergreift, umso weniger riskiert er, ihrer Sache zu schaden. Daher endet auf lange Sicht immer alles gut. Oder zumindest kehrt es wieder zur Ordnung zurück.
Es ist das Handeln, das Unannehmlichkeiten bereitet und die Krone aufs Spiel setzt, wie Elisabeth II. selbst in einer Anwandlung von Optimismus sagt: „Arbeitslosigkeit, Rezession, Krieg und Krisen. Diese Geschichten regeln sich von selbst.“ Über die Jahrhunderte scheinen die Krisen im Vergleich zum Gewicht des britischen Königshauses nicht allzu schwer zu wiegen. Und Elisabeth scheint eine klare Vorstellung davon zu haben, wie das auch so bleibt. Oder in den Worten Laozis: „Ein großes Land muss man leiten, wie man kleine Fischlein brät.“ •
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