Die Dialektik der Safe Spaces
Auf der Straße, bei der Arbeit oder in der Universität: Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, das allerdings niemals vollständig garantiert werden kann. Die Philosophin Amia Srinivasan erläutert, warum wir zwar das Streben nach ihr als politisches Problem ernst nehmen müssen, es jedoch auch kontraproduktive Formen der Sicherheit gibt.
Am 13. März 2021 versammelten sich Hunderte Frauen im Londoner Park Clapham Common. Sie trauerten um eine von einem Polizisten ermordete junge Frau und forderten Sicherheit für Frauen im öffentlichen Raum ein. Tausende Frauen teilten auf Twitter ihre Erfahrungen eines Gefühls der Unsicherheit auf den Straßen der nächtlichen Stadt; so schrieb die Sängerin Imelda May etwa, sie „kenne keine Frau, die in ihrem alltäglichen Leben nicht um ihre Sicherheit fürchtet. Wir denken nach über bestimmte Wegstrecken, über das Tragen von Headsets, (…) Straßenlaternen, darüber, wo wir das Auto tagsüber parken und wie wir nachts zu ihm gelangen, mit dem Schlüssel in der Hand, für den Fall der Fälle.“
Tatsächlich ist es mehr oder weniger unvorstellbar, eine Frau zu sein, die in einer Stadt wohnt und nicht weiß, wie es ist, wenn eine dunkle Gasse oder schneller werdende Schritte ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen. Doch ein enger Fokus auf geschlechterspezifische Gewalt im öffentlichen Raum, wie er durch den Mord an Sarah Everard und ähnliche Vorfälle gesetzt wird, kann ein verzerrtes Bild der Realität zeichnen: Gewalt erfahren Frauen am ehesten zu Hause durch ihre (Ex-)Partner. Am Tag nach der Mahnwache von Clapham Common twitterte Sisters Uncut, eine der Frauengruppen, von denen die Mahnwache organisiert wurde: „Wir hoffen, dass nach dem heutigen Treffen alle wieder sicher zu Hause angelangt sind. Obwohl uns klar ist, dass in einem Land, in dem wöchentlich zwei Frauen durch ihren Partner oder ihren Ex ermordet werden, zu Hause nicht immer der sicherste Ort ist.“
Boris Johnson nannte den Mord an Everard einen „schrecklichen Fall“, der „eine Welle von Mitgefühl für Frauen entfesselt hat, die sich nachts nicht sicher fühlen“. Teil des Lösungsvorschlags seiner Regierung ist es, in Bars und Clubs Polizeibeamte in Zivil zu stationieren. Angesichts der Umstände von Everards Ermordung hätte diese Initiative vermutlich sowohl bei ihr selbst als auch bei den vielen anderen Frauen, die Opfer von Polizeigewalt werden, kaum zur Beruhigung beigetragen. (In England und Wales gab es zwischen 2012 und 2018 nahezu 1500 Anklagen gegen Polizeibeamte wegen sexuellen Fehlverhaltens. Sowohl in Großbritannien als auch in den Vereinigten Staaten liegt die Rate tätlicher Angriffe männlicher Polizeibeamten auf ihre Partnerinnen signifikant höher als im Durchschnitt.)
Außerdem hilft die Fokussierung auf die Sicherheit vor Fremden jenen Frauen wenig, die Opfer der verbreitetsten Formen männlicher Gewalt sind: den alltäglichen Schlägen, Vergewaltigungen und Morden in häuslicher Umgebung durch Freunde, Ehemänner, Väter, Stiefväter und Onkel. Sicherheit ist ein reales menschliches Grundbedürfnis: Wir alle brauchen sie in einem nennenswerten Maß, um unser Leben frei und selbstbestimmt zu führen. Der Entzug von Sicherheit bedeutet nicht nur, Formen physischer oder psychischer Schädigung ausgesetzt zu sein; er bedeutet auch die Erosion unseres Sinns für uns selbst als Handelnde in der Welt.
Denken wir an die „systemrelevanten“ Arbeiterinnen und Arbeiter, von denen verlangt wurde, während der Pandemie ohne geeigneten Schutz zu reisen und zu arbeiten, an die Bewohner von Gaza unter Raketenbeschuss, an die in Bandenkriegen getöteten Frauen von Ciudad Juárez, an die Beiruter, die in einer explodierten Stadt mit zusammenbrechender staatlicher Infrastruktur leben, an die Hunderttausenden Inderinnen und Inder, die an Sauerstoff- und Impfstoffmangel starben, an die Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die überproportional unverhältnismäßigen Polizeikontrollen unterzogen werden.
In all diesen Fällen sind die Betroffenen körperlicher Bedrohung und Angriffen auf die Würde ausgesetzt. Doch ebenso wird eine tückische Unsicherheit geschaffen, eine, die den Sinn für individuelle Möglichkeiten und Kontrolle herunterfährt. Ohne eine gewisse Garantie von Sicherheit können wir nicht planen und nicht träumen. (Die Psychoanalytikerin und Feministin Jacqueline Rose schreibt, dass sexuelle Belästigung „die Fähigkeit des Geistes zur Träumerei zerstört“.)
Sicherheit ist auch, wie uns diese Fälle in Erinnerung rufen, ein Gut, das entlang der Trennlinien von Race, Geschlecht, Klasse, Nationalität und Kaste unterschiedlich verteilt ist. Die Pandemie hat unsere gemeinsame Verletzlichkeit offenbart und dient damit als mahnende Erinnerung, dass wir nicht nur alle anfällig für Krankheit und Tod sind, sondern dass der Mangel an Sicherheit bei einer anderen Person, wie weit entfernt diese auch erscheinen mag, eine tödliche Bedrohung für meine eigene Sicherheit bedeuten kann.
Aus diesem Grund war die Pandemie für einige zunächst eine Quelle politischer Hoffnung. Vielleicht, so dachten sie, wird uns die Pandemie zur Abkehr von einer individualistischen Politik bewegen, die ihre Wurzel in einer Leugnung unserer geteilten und wechselseitigen Verletzlichkeit hat. Bisher hat die Pandemie allerdings anscheinend genau das Gegenteil bewirkt: Sie hat jene sozialen Distinktionen, die nicht nur der allgemeinen menschlichen Verfasstheit wegen, sondern aufgrund spezifischer politischer Umstände bestimmte Gruppen verletzlich machen, noch weiter vertieft.
Weltweit ist bereits klar abzusehen, dass es mit überwältigender Mehrheit vor allem arme Menschen sind, die Opfer der Pandemie wurden. Die finale Bilanz, wenn sie denn je gezogen werden sollte, wird zeigen, wie sehr das Virus die Umrisse bereits bestehender Ungleichheit nachgezogen hat.
Wir alle sind verletzlich, doch manche sind es viel mehr als andere. Die Philosophin Judith Butler unterscheidet etwa zwischen der allgemeinen menschlichen Verfasstheit des Prekärseins (precariousness) – jene Verletzlichkeit und Abhängigkeit, die alle Lebewesen, einschließlich der nichtmenschlichen Tiere, kraft ihrer endlichen, auslöschbaren Körper erfahren – und der spezifischen Bedingung der Prekarität (precarity), die bestimmte Gruppen aufgrund unserer kontingenten politischen Vereinbarungen betrifft. (Auch das Leben von Jeff Bezos ist prekär, doch er wird vermutlich nie persönlich erfahren, was Prekarität bedeutet.)
Wenn Sicherheit ungleich verteilt ist – wenn es also um Prekarität und nicht Prekärsein geht –, dann handelt es sich um ein politisches Problem, das nach einer Lösung verlangt. Doch manchmal drückt der Ruf nach Sicherheit einen Wunsch aus, auf den es keine Antwort geben kann, oder zumindest einen Wunsch, den wir nicht zu erfüllen versuchen sollten. Was sich nämlich unsicher anfühlt (die dunklen Straßen nachts, Fremde), kann in Wirklichkeit sicherer sein als das, was viele unkritisch als sicher akzeptieren (Zuhause, Partner, Polizei); was uns echte Sicherheit bringen würde (die Welt zu impfen), kann so aussehen, als ginge es zulasten unserer eigenen Sicherheit (indem es „unser“ Geld kostet).
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Amia Srinivasan: „Hier könnte ein feministisches Bewusstsein wachsen“
In Fällen sexueller Belästigung oder Ausbeutung folgt schnell der Ruf nach schärferen Gesetzen. Die Philosophin Amia Srinivasan bezweifelt, dass Strafrechtsparagrafen das Geschlechterverhältnis regeln können, und plädiert für ein radikales Hinterfragen von Denkmustern.

Hinterlasse keine Spur
Der Nachwelt ein Zeugnis der eigenen Existenz zu übermitteln, ist ein menschliches Bedürfnis. Allerdings haben unsere Hinterlassenschaften in Form von Umweltverschmutzung schon jetzt ein katastrophales Ausmaß erreicht. Deshalb ist es höchste Zeit, sich mit seinem individuellen Anteil daran auseinanderzusetzen, meint Alice Lagaay.

Warum genießen wir?
Manchmal mag uns das Streben nach Genuss bloß als ein menschliches Laster erscheinen. Doch das ist eine verkürzte Sichtweise, wie diese drei Positionen zeigen.

Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
Kristina Lunz: „Menschenrechtsverachtung darf niemals normalisiert werden“
Für gesellschaftlichen Wandel sind zwei Aspekte zentral, meint Kristina Lunz in ihrem neuen Buch: Empathie, um andere anzuerkennen und Widerstand, wenn Menschenrechte verletzt werden. Ein Gespräch über Universalismus als Leitplanke und die Gefahren selektiver Empathie.

Big data vs. freies Leben: Wie berechenbar sind wir?
Niemals wissen oder auch nur ahnen zu können, was er als Nächstes sagen würde, das war es, was die Schriftstellerin Virginia Woolf an ihrem Gatten Leonard ganz besonders schätzte. Selbst nach vielen Jahren des Zusammenlebens war er ihr am Frühstückstisch ein Quell unabsehbarer Einfälle und Thesen. Nur so, nur deshalb konnte sie ihn wahrhaft lieben. Wenn ich mir selbst – und anderen – erklären muss, was ich an einer Welt, in der sich das Verhalten jedes Menschen zu jeden Zeitpunkt im Prinzip treffsicher prognostizieren ließe, so schrecklich fände, kommt mir immer diese kleine Anekdote in den Sinn. Denn jeder spürt sofort, sie trifft eine tiefe Wahrheit über unser aller Dasein.
Dirk Oschmann: „Dass der Osten nichts von Demokratie verstünde, ist eine niederträchtige Zuschreibung“
„Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung“. Mit dieser These hat Dirk Oschmann jüngst eine hitzige Debatte angestoßen. Im Interview erläutert er, wie ein Teil Deutschlands den anderen zu etwas macht, was dieser niemals war, und was dagegen zu tun ist.

Birgit Recki: „Ernst Cassirer versteht die Kultur als fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen“
Mit seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen leistete er einen Beitrag, der an Wichtigkeit für die Kulturphilosophie nicht zu überschätzen ist. Am Sonntag vor 150 Jahren kam Ernst Cassirer zur Welt, den es laut der Philosophin Birgit Recki unbedingt als Denker der Freiheit wiederzuentdecken gilt.
