Die Natur des Notwendigen
Seit Jahrtausenden befassen sich Philosophen mit der Frage, was es für ein gutes Leben wirklich braucht. Fokus und Übung? Alles und noch mehr? So wenig wie möglich? Etwas ganz anderes als den Status quo? Wir stellen Ihnen fünf verschiedene Typen vor.
1. Die Asketen: Übung macht den Meister
Kalanos
4. Jh. v. Chr.
Zu den ältesten bekannten Asketen gehört die brahmanische Gruppe der Gymnosophisten, der „nackten Weisen“, denen Alexander der Große auf seinem Feldzug in Nordindien begegnete. Einer von ihnen ist Kalanos, der ein besitzloses Leben in Selbstkasteiung praktizierte. Täglich habe er, so heißt es, schutzlos in der sengenden Hitze ausgeharrt, um sich in Selbstkontrolle und Verzicht zu üben. Wie er wohl auf die heutige Konsumgesellschaft mit ihren verfeinerten Bedürfnissen geblickt hätte? Vielleicht nicht einmal abschätzig, immerhin hält er den Menschen für lernfähig. Um seine Lehre zu verbreiten, schließt er sich Alexander an und geht mit ihm nach Persien. Sein Freitod durch Selbstverbrennung, den er mit Ruhe und Gesang vollzogen haben soll, ist seine letzte Lektion: Auch der Tod sei nicht zu fürchten.
Immanuel Kant
1724–1804
Kant ist das Sinnbild des zurückgezogenen Denkers, für den Philosophie gelebte asketische Praxis ist. Er bleibt unverheiratet, verbringt beinahe sein gesamtes Leben in Königsberg und folgt einer strengen täglichen Routine, die wenig Spielraum für Freizeit lässt. Die mönchische Askese der Selbstpeinigung lehnt Kant hingegen ab: Sie geschehe aus „abergläubischer Furcht“ oder „geheucheltem Abscheu“ an sich selbst, auch sei sie Resultat eines versteckten Tugendhasses. Stattdessen spricht er sich für eine moralische Askese aus, verstanden als „Kultur der Tugend“ bei gleichzeitiger Entbehrung des Überflüssigen. Was der Mensch demnach braucht, sind geistige Disziplin, Ehrgeiz, Fleiß und Integrität sowie Verzicht auf Ablenkung und Müßiggang – in anderen Worten: das volle preußische Programm.
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Wer ist mein wahres Selbst?
Kennen Sie auch solche Abende? Erschöpft sinken Sie, vielleicht mit einem Glas Wein in der Hand, aufs Sofa. Sie kommen gerade von einem Empfang, viele Kollegen waren da, Geschäftspartner, Sie haben stundenlang geredet und kamen sich dabei vor wie ein Schauspieler, der nicht in seine Rolle findet. All diese Blicke. All diese Erwartungen. All diese Menschen, die etwas in Ihnen sehen, das Sie gar nicht sind, und Sie nötigen, sich zu verstellen … Wann, so fragen Sie sich, war ich heute eigentlich ich? Ich – dieses kleine Wort klingt in Ihren Ohren auf einmal so seltsam, dass Sie sich unwillkürlich in den Arm kneifen. Ich – wer ist das? Habe ich überhaupt so etwas wie ein wahres Selbst? Wüsste ich dann nicht zumindest jetzt, in der Stille des Abends, etwas Sinnvolles mit mir anzufangen?
Das Ideal der Intensität
Man kennt es aus Filmen und Romanen: Die Frage nach dem Lohn des Lebens stellt sich typischerweise erst im Rückblick. Als Abrechnung mit sich selbst und der Welt. Wenn das Dasein noch mal vor dem inneren Auge vorbeifliegt, wird biografisch Bilanz gezogen: Hat es sich gelohnt? War es das wert? Würde man alles wieder so machen? Dabei läge es viel näher, die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, nicht so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist, sondern sie zum Gradmesser von Gegenwart und Zukunft zu machen. Zum einen, weil sie so gegen spätere Reuegefühle imprägniert. Wer sich darüber im Klaren ist, was das Leben wirklich lebenswert macht, wird gegenüber dem melancholischen Konjunktiv des „Hätte ich mal …“ zumindest ein wenig wetterfest. Zum anderen ist die Frage als solche viel dringlicher geworden: In dem Maße, wie traditionelle Bindungssysteme an Einfluss verloren haben, also etwa die Bedeutung von Religion, Nation und Familie geschwunden ist, hat sich der persönliche Sinndruck enorm erhöht. Wofür lohnt es sich, morgens aufzustehen, ja, die Mühen des Lebens überhaupt auf sich zu nehmen? Was genau ist es, das einem auch in schwierigen Zeiten Halt verleiht? Und am Ende wirklich zählt – gezählt haben wird?
Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
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Ein lebendiger Stuhl mit drei Beinen, eine Naturkatastrophe und der frühe Tod einer Mutter. Das sind nur ein paar der Komponenten, aus denen der japanische Regisseur Makoto Shinkai Suzume einen „modernen Mythos“ kreiert hat. Der Film kommt nun in die deutschen Kinos.

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In unserem Kulturanzeiger stellen wir in Zusammenarbeit mit Verlagen ausgewählte Neuerscheinungen vor, machen die zentralen Ideen und Thesen der präsentierten Bücher zugänglich und binden diese durch weiterführende Artikel an die Philosophiegeschichte sowie aktuelle Debatten an. Diesmal im Fokus: Alles, was dazwischenliegt von Nesibe Kahraman, erschienen bei Beltz.
