Eine Frage der Klasse
Rosa Luxemburg widmete ihr Leben der Verwirklichung des sozialistischen Ideals. Wie niemand sonst verkörperte sie tatkräftige Intelligenz und eine „Philosophie der Praxis“ – und wenn sie die Meinung ihrer Genossen nicht teilte, verstand sie es immer, sich Gehör zu verschaffen.
Geboren wird Rozalia Luksenburg am 5. März 1871 in Zamość, im Osten des heutigen Polen, der damals vom zaristischen Russland annektiert war. Sie ist das fünfte Kind einer mittelständischen jüdischen Familie. Im Alter von fünf Jahren diagnostiziert man bei ihr, fälschlicherweise, eine Knochentuberkulose: Ein ganzes Jahr verbringt sie mit Gipsbein im Krankenbett, daher rührt ihr leichtes Hinken.
Schon während ihres Besuches eines Warschauer Mädchengymnasiums in ihrer Gymnasialzeit schließt sie sich Mitte der 1880er-Jahre einer sozialistischen Untergrundorganisation an; Ende 1888 flieht sie, wie zahlreiche andere Revolutionäre auch, in die Schweiz. In Zürich lernt sie Leo Jogiches kennen und lieben. Er bringt sie zum Studium der Ökonomie, Philosophie und Rechtswissenschaft. Gemeinsam gründen sie, in Abgrenzung zur Polnischen Sozialistischen Partei, die Sozialdemokratie des Königreichs Polen: Ihr Ansinnen ist nicht die Unabhängigkeit Polens, denn der Nationalismus diene immer der Spaltung des Proletariats. Das Ziel ist zunächst der Sturz des zaristischen Regimes. Rosa Luxemburg steht also für eine internationalistische Strömung in der sozialistischen Bewegung.
1897 geht sie nach Berlin und nimmt Beziehungen zur deutschen Sozialdemokratie auf – freundschaftlich verbunden ist sie bald vor allem mit Karl Kautsky und Clara Zetkin. Luxemburgs aktive Teilnahme am Revisionismusstreit, der die Partei 1898 beschäftigt, trägt zu ihrer Berühmtheit bei: Gegen Eduard Bernstein, der das Prinzip der Revolution aufgeben und die Bewegung auf die Mittelschicht ausweiten will, nimmt sie in sieben Artikeln Stellung, die sie später als Sozialreform oder Revolution? veröffentlichen wird.
Niemals gegen Klassenbrüder
Dank ihres Elans wird sie bald in das Internationale Sozialistische Büro, die Koordinationsstelle der Zweiten Internationale, aufgenommen. Ihre Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) führt in sozialistischen Kreisen zu einer heftigen Kontroverse: Gegen die zentralistischen Anwandlungen zahlreicher Theoretiker vertritt Luxemburg darin die Auffassung, die Partei dürfe bei der Aufklärung in revolutionären Kreisen nur eine begrenzte Rolle spielen – es obliege den Arbeiterinnen und Arbeitern, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
1913 veröffentlicht sie ihr Hauptwerk Die Akkumulation des Kapitals mit der These, die kapitalistische Akkumulation könne sich nur durch die Ausdehnung des Kapitalismus auf ausländische oder aber nichtkapitalistische innere Märke vollziehen. Sie verknüpft als eine der Ersten die sozialistische Kritik mit den antikolonialen Bewegungen.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg befasst sich Luxemburg mit dem Krieg: Sie fordert die Arbeiter auf, die Waffen niemals gegen ihre Klassenbrüder zu richten – dafür wird sie wegen der „Aufforderung zum Ungehorsam“ verurteilt und inhaftiert. Bei Kriegsausbruch muss sie enttäuscht erkennen, dass die Mehrheit der sozialistischen Abgeordneten für die Kriegskredite stimmt. Sie gründet daraufhin mit Karl Liebknecht und Leo Jogiches die Gruppe Internationale, aus der später die Spartakusgruppe hervorgeht, und wird erneut verhaftet. Die Kriegsgegner werden 1917 aus der SPD ausgeschlossen und gründen die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), der sich die Spartakusgruppe als linker Flügel anschließt.
Freiheit als Freiheit des anders Denkenden
Gleichzeitig ereignet sich die Russische Revolution, „das gewaltigste Faktum des Weltkrieges“. Trotz aller Begeisterung zeigt sie sich kritisch gegenüber der autokratischen Macht Lenins: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden.“
Zu Kriegsende sind die Spartakisten isoliert, spalten sich von der USPD ab und gründen die Kommunistische Partei Deutschlands. Doch Anfang Januar 1919 gerät die Lage in Berlin außer Kontrolle, nachdem der Rat der Volksbeauftragten unter der Führung von Friedrich Ebert (SPD), des späteren Reichspräsidenten, verfügt hatte, das USPD-Mitglied Emil Eichhorn als Polizeipräsident von Berlin abzusetzen. Daraufhin treten eine halbe Million Arbeiter in den Streik und gehen auf die Straße. Ebert lässt den Aufruhr gewaltsam unterdrücken und bedient sich dazu der aus demobilisierten Soldaten bestehenden, paramilitärischen Freikorps. Am 14. Januar veröffentlicht Rosa Luxemburg ihren letzten Artikel: Die Ordnung herrscht in Berlin. Tags darauf wird sie von Freikorpssoldaten festgenommen und ermordet. Ihre Leiche wirft man in den Landwehrkanal.
Die Frauenrechtsfrage
Rosa Luxemburg behandelt die Frauenrechtsfrage in einem einzigen Artikel: Frauenwahlrecht und Klassenkampf von 1912. Sie weist darin auf die zentrale Stellung der Frauen in den sozialen Bewegungen hin und erklärt die Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts damit, dass die Mehrheit der Frauen nicht nur Frau, sondern vor allem Proletarier ist – deren Stimme wollten die etablierten Machthaber zum Schweigen bringen. Es folgt ein Auszug aus Rosa Luxemburgs Text Frauenwahlrecht und Klassenkampf aus dem Jahr 1912.
Einer der ersten großen Verkünder der sozialistischen Ideale, der Franzose Charles Fourier, hat vor hundert Jahren die denkwürdigen Worte geschrieben: In jeder Gesellschaft ist der Grad der weiblichen Emanzipation (Freiheit) das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation. Das stimmt vollkommen für die heutige Gesellschaft. Der jetzige Massenkampf um die politische Gleichberechtigung der Frau ist nur eine Äußerung und ein Teil des allgemeinen Befreiungskampfes des Proletariats, und darin liegt gerade seine Kraft und seine Zukunft. Das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht der Frauen würde – dank dem weiblichen Proletariat – den proletarischen Klassenkampf ungeheuer vorwärtstreiben und verschärfen. Deshalb verabscheut und fürchtet die bürgerliche Gesellschaft das Frauenwahlrecht, und deshalb wollen und werden wir es erringen. Auch durch den Kampf um das Frauenwahlrecht wollen wir die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer stürzt. •
Weitere Artikel
Rosa Luxemburg und die Spontaneität
Wie kann eine politische Bewegung dafür sorgen, dass sie ihren Schwung nicht verliert? Diese Frage beschäftigte Rosa Luxemburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Arbeiterbewegung. Ihr Plädoyer für Spontaneität inspiriert das politische Denken bis heute.

Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Kibbuz: Wie Utopien enden
Die israelischen Landkommunen waren Laboratorien utopischer Gesellschaftsentwürfe. In der sozialistischen Basisdemokratie sollte der Neue Mensch entstehen. Inzwischen haben die meisten Kibbuzim die Privatisierung eingeleitet. Völlig vergessen sind die alten Ideale trotzdem nicht

Verstehen statt vergelten?
Opfer und Täter von Gewaltverbrechen bleiben in der Regel allein mit ihrer Ohnmacht, ihrem Hass, ihrer Sprachlosigkeit. Was aber wäre, wenn man sie ins Gespräch bringt? In Belgien gehört die Restorative Justice seit 20 Jahren zur gängigen Praxis. Eine Reportage über Menschen, die den Versuch wagen, das Unbegreifbare zu begreifen. Und sich der Konfrontation stellen
Wenn Meinung auf Tatsache trifft
Wir werfen anderen vor, nicht die Wahrheit zu sagen, streiten über Tatsachen oder halten an unserer Meinung fest. Doch nur selten klären wir dabei, was man unter Meinung, Wahrheit und Tatsache eigentlich versteht. Höchste Zeit, die Begriffe genauer in den Blick zu nehmen.

Gerichtsmediziner Philippe Boxho: „Ich bin die letzte Chance für einen Toten, sich bei den Lebenden Gehör zu verschaffen“
Die Arbeit eines Gerichtsmediziners ist philosophischer, als es im ersten Moment scheint: Der belgische Rechtsmediziner Philippe Boxho erklärt, wie sich Absichten in Organen materialisieren, weshalb die Wahrheit schwerer wiegt als der Wunsch der Verstorbenen und warum Menschen sich gegenseitig töten.

Judith Butler: „Einige Leben für das Wohl aller zu opfern, erscheint mir faschistisch“
Was hat uns die Pandemie über die Welt offenbart? So fragt Judith Butler im aktuellen Buch und entwickelt ein intersubjektives Verständnis von Freiheit. Aber zu welchem Preis? Ein Gespräch über Zero Covid, amerikanischen Kapitalismus und die Suche nach neuen sozialistischen Ideen.

Machiavelli und der Krieg
Ist der Krieg das Ende oder vielmehr der Anfang aller Dinge? Und wirklich in jedem Fall ein vermeidbares Übel? Diesen Fragen widmete sich Niccolò Machiavelli in seinem Werk Die Kunst des Krieges. Zwar mögen Machiavellis Antworten nicht immer unsere moralische Zustimmung verdienen. Sehr wohl aber unser politisches Interesse.
