Glauben Sie noch an ein multikulturelles Amerika, Anthony Appiah?
„E pluribus unum“, „Aus vielen eines“ heißt es auf dem Hoheitssiegel der USA. Der Ausspruch, der ursprünglich die Union der Bundesstaaten in einem Vereinigten Amerika feierte, gilt auch als Verweis auf die ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes. Doch wie zutreffend ist das Selbstbild des „Schmelztiegels“? Und ist der Traum vom Pluralismus nicht längst Ressentiment und Spaltung gewichen?
Die Vereinigten Staaten wurden nach einem liberalen Prinzip gegründet: Jeder kann nach seinem Glück streben und seine Vorstellung von einem guten Leben frei definieren. Ist dies der einzige Weg, um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, religiöser Orientierung und Kultur zu gewährleisten?
Wir sollten zunächst festhalten, dass das Ideal, dass alle Menschen ihr Leben frei gestalten können, nicht auf die Versklavten oder auf viele Frauen sowie die amerikanischen Ureinwohner angewandt wurde. Erst seit 1920 garantiert die Bundesverfassung den Frauen das Wahlrecht, auch wenn diese in Wyoming bereits 1869 das Wahlrecht erhielten. Ein Jahr später, 1870, wurde der 15. Zusatzartikel zur Verfassung ratifiziert, sodass niemandem das Wahlrecht „aufgrund von Rasse, Hautfarbe oder früherer Knechtschaft“ verweigert werden durfte. Die Freiheit jedes Einzelnen, sein eigenes Leben nach seinen Zielen und Werten zu gestalten, blieb jedoch sehr ungleich verteilt. Dennoch ist es wahr, dass die Idee des „Pursuit of Happiness“, also dem Streben nach Glück, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, gepaart mit dem Hinweis auf die Freiheit, so etwas wie das liberale Ideal ausdrückt. Diese Tradition baut auf der Einsicht des Westfälischen Friedens vom 24. Oktober 1648 auf, dass religiöse Toleranz der beste – und vielleicht der einzige – Weg ist, um sozialen Frieden in multikonfessionellen Gesellschaften zu schaffen. In den Jahren nach der Unabhängigkeit gab es unterschiedliche Meinungen darüber, welche Rolle die einzelnen amerikanischen Staaten in Bezug auf religiöse Angelegenheiten spielen sollten. Die Verfassung von Massachusetts aus dem Jahr 1780 erklärte, dass „das Glück eines Volkes, die gerechte Ordnung und die Erhaltung der Zivilregierung wesentlich von Frömmigkeit, Religion und Sittlichkeit abhängen“, und dass dies „die öffentliche Verehrung Gottes und [...] öffentliche Unterweisung in Frömmigkeit, Religion und Sittlichkeit“ erfordere. Daher ermächtigten sie die Legislative, Bestimmungen für protestantische Kirchen im ganzen Staat zu treffen, wenn auch nicht auf konfessionelle Art und Weise. Das Dokument legte fest, dass „alle christlichen Konfessionen, die sich friedlich [unterwerfen], ebenfalls unter dem Schutz des Gesetzes [stehen]“. Dieser Schutz wurde jedoch nicht auf Juden, Muslime oder Atheisten ausgeweitet. In der Verfassung von Pennsylvania aus dem Jahr 1776 hieß es hingegen: „Keinem Menschen, der die Existenz eines Gottes anerkennt, dürfen aufgrund seiner religiösen Gesinnung oder seiner besonderen Art der Religionsausübung irgendwelche bürgerlichen Rechte vorenthalten werden.” Diese Bestimmung garantierte den Schutz aller Monotheisten, nicht aber den der Atheisten oder gar Polytheisten.
Das Ideal der individuellen Autonomie setzte sich letztendlich dennoch durch...
Die Substanz dieses liberalen Ideals setzte sich allmählich in Bezug auf Herkunft, Geschlecht und Religion durch. Dennoch ist es heute offensichtlich nicht in den Herzen aller Amerikaner verankert. Im Jahr 2022 gaben 45 Prozent der Befragten in einer Umfrage des Pew Center an, dass die USA eine christliche Nation sein sollten. In der Praxis garantiert der erste Zusatzartikel der US-Verfassung die freie Religionsausübung. Durch die Auslegung des 14. Zusatzartikels, aus dem Jahr 1947, dürfen die Bundesregierung oder die Bundesstaaten außerdem keine Glaubensrichtung vorschreiben. Nichtsdestotrotz ist das Christentum auf vielerlei Weise in das amerikanische Leben integriert. Unser wichtigster Feiertag ist Weihnachten, die Präsidenten beziehen sich regelmäßig auf ihre christlichen Überzeugungen und der Treueschwur, der in vielen Schulen abgelegt wird, bezieht sich auf „eine Nation unter Gott“.
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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