Kafka, mein Körper und ich
Gebrechlich, abstoßend, gar fragmentiert: Immer wieder schreibt Kafka über das schwierige Verhältnis zum Körper. Unsere Autorin entdeckt gerade darin Möglichkeiten leiblicher Befreiung.
Mein Körper ist mir fremd. Meine Arme, meine Beine, meine Gesichtszüge – ich erkenne sie zwar im Spiegel als zu mir gehörig, ich bewege mich mit ihnen mehr oder weniger sicher durch den Alltag, aber dennoch bleiben sie mir zu einem gewissen Grad rätselhaft. „Wie fern sind mir z. B. die Armmuskeln“, schreibt Franz Kafka 1911 in sein Tagebuch und genauso fühlt es sich an: nach einer Entfernung, nicht nur einer räumlichen, sondern einer substanziellen, gemischt mit einem leisen Zweifel an der Kraft des Körpers, an seinem lebendigen Funktionieren. Als Kind hatte ich eine Weile Angst vor dem Schlucken. Von einem Tag auf den anderen war mir dieser eigentlich automatisch ablaufende Vorgang nicht mehr möglich, ohne mich dabei stark zu konzentrieren, im Hintergrund die lauernde Gefahr, ich könnte auch daran ersticken. Es war, als hätte sich irgendetwas zwischen mich und die körperlichen Abläufe gedrängt und sie so gestört, dass ihre Natürlichkeit fundamental fragwürdig wurde. Kaum ein anderer hat dieses Gefühl eindrücklicher in Worte gefasst als Franz Kafka. Auch er scheint ein solches fragiles Verhältnis zum eigenen Körper genau zu kennen, geprägt von Misstrauen und Furcht, er könnte bald zusammenbrechen. In dem Brief an den Vater schreibt er: „(Ich) staunte alles, worüber ich noch verfügte, als Wunder an, etwa meine gute Verdauung; das genügte, um sie zu verlieren“. Die Verdauung, das Schlucken, der Schlaf: Konzentriert man sich zu sehr auf diese Prozesse, büßen sie ihre Selbstverständlichkeit ein. Alle drei Dinge habe ich mehrfach verloren.
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