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 Philosophie Magazin - Impulse für ein freieres Leben
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Bilder: Raimond Spekking, Hammerl Photographie (beide CC BY-SA 4.0)

Dialog

Krieg und Freiheit

Hedwig Richter, Gerhart Baum, im Interview mit Thea Dorn veröffentlicht am 05 Juni 2023 18 min

Wie umgehen mit der Tatsache, dass in Europa Krieg herrscht? Wie das richtige Maß finden zwischen Erschütterung und Einmischung? Ein Gespräch zwischen dem ehemaligen Innenminister Gerhard Baum und der Historikerin Hedwig Richter, moderiert von Thea Dorn. 

 

Das Gespräch fand am 08.05.2023 im Rahmen der Gesprächsreihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ der Wüstenrot Stiftung unter dem Titel „Krieg und Freiheit“ in Stuttgart statt. Redaktion: Karin Janker


Thea Dorn: Über Jahrzehnte haben wir uns in Westeuropa an den Dreiklang „Freiheit, Frieden, Wohlstand“ gewöhnt. Doch plötzlich ist aus dieser Harmonie eine Dissonanz geworden: Der Wunsch nach Freiheit und der Wunsch nach Frieden kollidieren, wie der Überfall von Putin-Russland auf die Ukraine zeigt. Wie sollen sich freiheitliche, demokratische Staaten aber verhalten, wenn sie angegriffen werden von einem autokratisch geführten Staat, der Krieg immer noch für ein Mittel der Politik hält? Liegt die Zivilität unserer westlichen Gesellschaften nicht gerade darin, dass wir uns von dem berüchtigten Clausewitz-Diktum, der Krieg sei eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, radikal abgewandt haben, indem wir Krieg und Gewalt in jedem Fall ablehnen? Herr Baum, Sie sind 1932 geboren, was waren Ihre ersten Assoziationen, als Sie gehört haben, dass es jetzt in Europa wieder Krieg gibt?

Gerhart Baum: Ich dachte an die Bombennacht in Dresden, überstanden mit meiner Mutter und meinen Geschwistern. Über Nacht war das ganze soziale Umfeld weg, es war der moralische Kompass weg. Tausende von Leichen lagen auf der Straße. Die Häuser waren Gerippe, glühten noch vom Feuersturm. Als ich später Aleppo gesehen habe, hatte ich Dresden wieder vor Augen. Ich bin ein Kriegskind und bin davon geprägt. Nach dem Krieg wollten wir keinen Schlussstrich, wir wollten wissen: Wie konnte das in Deutschland passieren? Ich wollte daran mitwirken, dass so etwas nie wieder passiert. Und diese Prägung ist natürlich da, wenn ich jetzt die Kriegsbilder sehe, und wieder erlebe, dass Leute berichten, im Luftschutzkeller zu sitzen und nicht zu wissen, ob die Bomber ihren Keller zertrümmern. Da habe ich auch gesessen. Ich kann die Erschütterung durch den Krieg nachvollziehen. Ich war auch Flüchtling: Wir wurden am Tegernsee in fremde Wohnungen eingewiesen, haben die Schlafzimmer anderer Leute besetzt. Ich weiß, was es bedeutet, nicht erwünscht zu sein. Seit 1945 hat mich nichts so sehr beschäftigt und erschüttert wie diese Situation jetzt.
 
Dorn: Frau Richter, Sie dagegen sind ein Kind der Friedenszeit, in den 1970ern in der alten Bundesrepublik geboren, also unter ähnlichen Bedingungen wie ich. Ich kenne den Krieg aus den Beschreibungen meiner Eltern und Großeltern, aber für mich selbst bliebt das alles doch eher abstrakt. Wie war das bei Ihnen?
 
Hedwig Richter: Ich erinnere mich intensiv daran, dass ich unglaublich Angst hatte als Kind. Unsere Mutter hatte sehr früh angefangen, uns vom Holocaust zu erzählen. Das gehörte für mich alles zusammen: Der Krieg und was die Deutschen gemacht haben. Es war entsetzlich. Ich begann, Alpträume zu haben: Soldaten kommen nachts ins Haus. Diese Dinge haben mich früh beschäftigt. Ich hatte stark das Gefühl, dass da etwas Dunkles auf uns lastet. Krieg war etwas Entsetzliches und man sollte alles tun, ihn zu verhindern. Aber meine Brüder gingen trotzdem zur Bundeswehr.
 
Baum: Warum auch nicht?
 
Richter: Eben. Ich will damit sagen, es war keine rein pazifistische Haltung. Aber Krieg gehörte für uns in die Vergangenheit und sollte niemals wiederkommen. Das war für mich prägend.
 
Dorn: Sie haben beide in den mittlerweile 15 Monaten seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine sehr dezidiert öffentlich Stellung bezogen. Ich zitiere einen Satz von Ihnen, Herr Baum, aus einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung: Sie schreiben dort, „Friedenssehnsucht“ verbinde uns alle. Und dennoch sind Sie auf Seiten derer, die im Augenblick befürworten, dass der Westen die Ukraine militärisch massiv unterstützt. Sie gehören also, trotz Ihrer persönlichen Erfahrungen im Krieg, nicht zu denjenigen, die Offene Briefe unterschreiben, in denen gefordert wird, das wichtigste Ziel müsse es sein, den Krieg zu beenden, alles Weitere werde sich dann schon irgendwie finden. 
 
Baum: So ist es. 
 
Richter: Ich würde gerne einen Blick zurückwerfen: 1948 hat die Völkergemeinschaft die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Darin heißt es, die Barbarei dieses Jahrhunderts habe das Gewissen der Menschheit zutiefst verletzt. Ein für mich sehr eindrucksvoller Satz. Da ist etwas Revolutionäres passiert: Darin steht nicht nur der Frieden als Ziel, sondern der Frieden wurde unlösbar mit dem Schutz der Menschenrechte verbunden. Diese Friedensordnung ist zutiefst infrage gestellt worden durch ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates. Und wir, die wir diese Ordnung verteidigen, wir werden von diesem Mitglied mit Atomwaffen bedroht. Ich will damit sagen, das ist kein regionaler Konflikt. Es ist Teil eines Epochenbruchs, der weitere Elemente hat: die Digitalisierung, die Globalisierung, den Klimawandel. Wir sind Veränderungen ausgesetzt in einer Massivität, wie wir sie bisher nicht erlebt haben. Und gleichzeitig sind wir in der Welt in einer ganz anderen Weise voneinander abhängig. Ein Tanker, der sich querstellt im Suezkanal, bringt die ganze Weltwirtschaft in Unordnung. Eigentlich müssten wir eine große Schicksalsgemeinschaft sein, aber das sind wir nicht. Wir erleben, wie ein totalitärer Staat einen anderen Staat überfällt. Und was wir dabei selbstverständlich tun, ist, diesem Volk zu helfen, seine Freiheit zu verteidigen. 
 
Dorn: Olaf Scholz hat von der „Zeitenwende“ gesprochen. Frau Richter, Sie haben in der ZEIT einen Artikel geschrieben, in dem Sie skizzieren, dass der gesamte Habitus, den wir uns im Westen angeeignet haben, von gesteigerter Empfindlichkeit zeugt. Sie zitieren dort auch den polemischen Begriff der „Snowflakes“, also einer Generation von Menschen, die schon der kleinste Gegenwind aus der Fassung bringt und die den Begriff der Gewaltsamkeit immer weiter bis hin zur „Mikroaggression“ ausgedehnt hat. Wie bekommen wir diesen sensiblen Geist mit einer neuen Verteidigungs- und Wehrbereitschaft zusammen?
 
Richter: Ich will betonen, dass ich es für einen großen Gewinn halte, dass wir diese Sensibilität haben. Die Historikerin Lynn Hunt sieht die Empathie als den Ursprung der Menschenrechte. Sie sagt, die Menschenrechte sind unter anderem dank Literatur und Kunst erst denkbar geworden. Empathie und Sensibilität haben deshalb einen unglaublich großen Wert. Es ist auch eine Form von Höflichkeit, dass man eine Sprache verwendet, die andere mit einbezieht. Das will ich vorneweg sagen. Aber, wenn wir all das schützen wollen, dürfen wir uns natürlich den anderen nicht völlig ausliefern. Wir müssen uns schon auch wehren, wenn von außen Gewalt auf uns zukommt. Deswegen finde ich es, gerade auch mit der deutschen Geschichte, nicht überzeugend, eine streng pazifistische Position zu haben. Solange es Gewalttäter gibt, muss man in der Lage sein, sich zu verteidigen.
 
Dorn: Plakativ gesagt: Krieg gewinnt man nicht mit Empathie. Man gewinnt ihn mit Härte. Ist nicht genau das der Kern des Problems: Dass ein skrupelloser Despot wie Putin uns zwingt, dass wir uns wieder auf eine Logik der Gewalt einlassen, die wir eigentlich – den Menschenrechten oder dem eigenen Geschichtsbewusstsein sei Dank – überwunden hatten? In Hölderlins Roman Hyperion zieht der Held in den Krieg. Es geht darum, Griechenland, Inbegriff der Idee der Freiheit, von den Osmanen zu befreien. Diotima, seine Liebe, warnt ihn und fleht: „Du wirst erobern (…) und vergessen, wofür? wirst, wenn es hoch kommt, einen Freistaat dir erzwingen und dann sagen, wofür hab ich gebaut? ach! es wird verzehrt sein, all das schöne Leben, das daselbst sich regen sollte, wird verbraucht sein selbst in dir! Der wilde Kampf wird dich zerreißen, schöne Seele, du wirst altern, seliger Geist! und lebensmüd am Ende fragen, wo seid ihr nun, ihr Ideale der Jugend?“ In der Tat berichtet einige Briefe später ein desillusionierter und verzweifelter Hyperion, dass auch seine Leute geplündert und gemordet haben: „und dabei sagen die Rasenden, sie fechten für unsre Freiheit.“   
 
Baum: Das führt zu dem eigentlichen Problem: Was macht Krieg mit den Menschen?
 
Dorn: Eben darauf will ich hinaus.
 
Baum: Was macht er mit den Flüchtlingen? Was macht er mit den Witwen? Es sind in der Ukraine 370 Kinder getötet worden. Was macht das mit den Müttern? Was passiert da? Es gibt einen ukrainischen Schriftsteller, der dazu arbeitet und gerade in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen hat.
 
Dorn: Serhij Zhadan.
 
Baum: Ich erinnere mich an die Diskussion um die Wiederbewaffnung. Da war ein großer Teil, der gesagt hat: Nie wieder Waffen! Verständlich. Aber Stalin hatte gerade den Krieg ausgerufen gegen die freie Welt. Und wir haben dagesessen und gesagt, die Amerikaner werden uns schon verteidigen. Diese Traumatisierung kommt auch in der aktuellen Politik immer wieder vor. Es gibt viele Leute, die fühlen sich von Russland und seinen Atomwaffen bedroht. Sie unterwerfen sich der Furcht, die Putin bewusst in die Welt setzt. Viele Menschen haben Angst um sich und nicht um die Ukraine. Wir sind also in dem Krieg schon längst mittendrin, werden auch bedroht. Das Ziel des Putin-Russlands – es gibt auch ein anderes Russland – ist eine neue Weltordnung. Dahinter steht eine neue Weltmacht: China. Wir sind in einer Weltordnung, die aus den Fugen geraten ist.
 
Dorn: Dem stimme ich zu. Ich würde aber die Frage, was der Krieg mit den Menschen macht, auch noch an Hedwig Richter stellen wollen. Sie unterrichten ja angehende Offiziere an der Bundeswehr-Universität in München. So gesehen sind Sie von uns dreien wahrscheinlich am nächsten an Soldaten dran. Halten Sie diese Verrohungsdynamik, die Hölderlin da beschreibt, für eine literarische Zuspitzung?
 
Richter: Ich bin keine Militär- und keine Gewaltexpertin. Aber natürlich verroht Krieg die Menschen. Ich sehe auch bei niemandem von denen, die Waffenlieferungen fordern, eine Begeisterung für diesen Krieg. Ich sehe eigentlich überall eine große Zögerlichkeit. Und dass man sich dann mit viel Bedacht dafür entscheidet, diese Waffen zu liefern. Meine Studenten sind sehr bedachte, überlegte Personen, denen es eher darum geht, die Demokratie, die Menschenrechte und die Menschenwürde zu verteidigen, eben das, was wir an Empfindlichkeiten haben.
 
Dorn: Aber ist das denn realistisch? Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die von einem US-amerikanischen Soldaten überliefert ist, der unter dem Befehl eines gewissen Colonel Charles Canham stand und zu den ersten gehörte, die am D-Day ins deutsche Feuer geschickt wurden. Dieser Canham muss ein entsetzlicher Drillmeister gewesen sein. Er befehligte ein Camp, in dem die Soldaten für diesen Einsatz trainiert wurden, bei dem vorher feststand, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit umkommen würden. Der Soldat erzählte, er habe am Ende mehr Angst vor Colonel Canham gehabt als vor den Deutschen. Und deshalb habe er sich nach der Landung am Omaha Beach, obwohl längst verwundet, immer weitergeschleppt. Wenn man das mit heutigen Debatten über „toxische Männlichkeit“, Macht und Machtmissbrauch zusammenbringt, dann steht man vor dem Paradox, dass die Operation Overlord, also die Landung der Alliierten 1944 an Stränden der Normandie, auch deshalb erfolgreich war, weil sie von so harten Typen wie Canham vorbereitet und durchgezogen wurde. Wie passt das mit unseren neuen, weichen Werten zusammen? 
 
Richter: Wichtig finde ich auf jeden Fall, dass man nicht so tut, als würde alles menschenrechtskonform ablaufen. Deshalb sind wir ja so zögerlich. Es wird zu Kriegsverbrechen kommen und es kommt auch auf ukrainischer Seite zu Kriegsverbrechen. Aber man sieht doch an den Alliierten: Es gibt ein ganz unterschiedliches Ausmaß an Verbrechen, man konnte Krieg so führen oder man konnte ihn anders führen. Es gibt eben durchaus Krieg für Demokratie, für Menschenrechte, für die gute Sache. Die Werte zerbrechen dann nicht, sondern die Soldaten kämpfen für sie. 
 
Baum: Umgekehrt glaube ich, die Diktaturen brauchen den Hass. Hass auf Juden, Hass auf Zwangsarbeiter.
 
Dorn: Hass auf Ukrainer.
 
Baum: Ich weiß noch, wie gesagt wurde: Da sind die russischen Zwangsarbeiter, Untermenschen, die kann man totschlagen. Wie lange hat es gebraucht, bis wir sie entschädigt haben? Jetzt wird neuer Hass entwickelt: Die Ukrainer seien Nazis, die uns bedrohen. Ausgerechnet ein Land, das unter den Nazis größte Opfer gebracht hat. Oder ein anderes Beispiel: Sudan. Ich war mehrere Jahre der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen für den Sudan. Wir hatten in Darfur zwei Millionen Flüchtlinge, in Zelten. Diese Flüchtlinge wurden bedroht von den sogenannten Dschandschawid. Deshalb musste die Völkergemeinschaft eine bewaffnete Gruppe aufstellen, die vor allem die Frauen und Kinder geschützt hat. Wir haben eine Verantwortung. Und die bedeutet, dass Krieg, der Einsatz von Waffen, das letzte Mittel ist. Alles muss versucht werden, um Frieden herzustellen. Und nach dem Krieg muss natürlich alles versucht werden, um den Frieden zu stabilisieren.
 
Dorn: Man kann natürlich sagen, der alles entscheidende Unterschied aus Sicht eines Soldaten ist, ob er Befehle im Namen der Verteidigung von Zivilität, Demokratie und Freiheit empfängt, oder Befehle im Namen eines autoritären bis offen diktatorischen Systems mit aggressiven imperialistischen Bestrebungen. Aber dennoch sind militärische Tugenden wie Gehorsam, Befehlstreue, Kameradschaft um jeden Preis auch per se nicht unproblematisch, oder? Wir wollen ja einen kritischen, freien Geist. Frau Richter, ganz praktisch gefragt, wie geht man in der Offiziersausbildung mit dieser Ambivalenz um, dass Angehörige des Militärs einerseits befehlen und gehorchen müssen, gleichzeitig aber natürlich kritische Bürger sein sollen? 
 
Richter: Kritischer Geist ist in der Militärgeschichte tatsächlich recht wichtig. Das vergessen wir gerne, weil wir glauben, dass das preußische Militär den kritischen Geist ausgeschaltet hatte. Aber Militärhistoriker, die sich damit beschäftigt haben, zeigen deutlich: Die Tradition der kritisch denkenden Offiziere war immer wichtig. Die heutige militärische Ausbildung zielt nicht auf blinden Gehorsam. Man behandelt Soldaten, nicht nur Offiziere, heute mit großem Respekt. Es gibt in allen Armeen von Demokratien auch Gruppen, die sich für Schwulenrechte einsetzen, für Queer-Rechte. Das gehört zusammen: Dass man die Menschenwürde achtet. 
 
Dorn: Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht in Deutschland 2011 spielt auch die soziale Herkunft wieder eine stärkere Rolle. Ich komme nochmals auf US-amerikanische Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Es gibt die sehr berührende und aufschlussreiche Geschichte der Bedford Boys, einer Gruppe junger Männer aus einer Kleinstadt in Virginia, von denen die meisten bei den Landungsgefechten in der Normandie ums Leben gekommen sind. Sie stammten allesamt aus eher ärmlichen Verhältnissen. Die sind in erster Linie zur Armee gegangen, um irgendwie Geld zu verdienen. Nicht, weil sie Hitlerdeutschland besiegen und die Freiheit gegen den Faschismus verteidigen wollten. 
 
Richter: Armeen waren immer ein guter Platz für sozialen Aufstieg. Ich hatte noch nie so diverse Studentengruppen – zwar nicht, was das Geschlecht betrifft, aber was die soziale Herkunft angeht: sehr viele mit Migrationsgeschichte etwa. 
 
Baum: Es gibt ganz unterschiedliche Motive, nicht nur die Bezahlung. Es gibt auch Menschen, die sagen, wir müssen unserem Land helfen. Wir bringen hier auch ein persönliches Opfer, das bis zum Einsatz des Lebens geht. Dabei kann man sich heute nicht mehr auf einen Befehlsnotstand berufen, das ist nach internationaler Rechtsprechung vorbei. Der Kommandeur von Butscha kann sich nicht darauf berufen, dass Putin das angeordnet hat. Er muss die Grundregeln des humanitären Völkerrechts selbst beachten, sonst wird er Kriegsverbrecher. Das heißt, es gibt eine letztmoralische Verantwortung des Einzelnen. Wobei ich nicht ausschließe, dass Gruppenzwang eine Rolle spielt. Psychologisch sind das ganz interessante Vorgänge.
 
Dorn: In Deutschland werden Soldaten gleichzeitig immer noch schief angesehen. Wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe, waren insgesamt mehr als 90.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan im Einsatz. Viele von ihnen haben Erfahrungen gemacht, die man tatsächlich als „traumatisch“ bezeichnen sollte. Wenn sie zurückkommen, erleben sie allerdings, dass sich niemand dafür interessiert. Dass die deutsche Gesellschaft insgesamt keinen Umgang mit dem Berufsstand des Soldaten hat. Im schlimmsten Fall müssen sie sich anhören, sie seien Mörder. 

Richter: Die Bundeswehr hat bei den Menschen einen viel besseren Ruf als in vielen Medien. Ich glaube, seit den 1990er Jahren werden die Umfrage-Ergebnisse zur Bundeswehr immer positiver. Sie gehört zu den Institutionen, zu denen die Menschen vergleichsweise viel Vertrauen haben. Mir haben Soldaten auch schon erzählt, dass sie angepöbelt wurden im Zug. Aber offenbar hat sich das seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine sehr stark gewandelt: Immer mehr Studierende erzählen mir, dass Menschen sich jetzt bei ihnen für den Dienst bedanken. Das kannte ich bisher nur aus den USA. Ich habe nicht das Gefühl, dass das jetzt ein neuer Militarismus ist. Aber es wird in der Öffentlichkeit stärker diese Wertschätzung gezeigt.
 
Baum: Im Krieg steckt natürlich immer die Tendenz zur Verrohung. Ich denke an Abu Ghraib, Irak: Die Soldaten eines demokratisch verfassten Staates begehen schwere Menschenrechtsverletzungen. Folter. Auch in Guantanamo sitzen immer noch Menschen, ohne Anklage, ohne Urteil. Wir müssen auch unseren Freunden gegenüber kritisch sein. Die Amerikaner haben nach dem 11. September ihren Rechtsstaat demontiert. Sie haben das zum Teil wieder rückgängig gemacht, aber zum Teil nicht. Und wir haben sie dabei noch unterstützt.
 
Richter: Was ich wirklich entsetzlich fand, war, dass Präsident Bush damals quasi offiziell die Folter wieder eingeführt hat. Ich verstehe mich wirklich als Transatlantikerin und finde Antiamerikanismus furchtbar. Aber damals hat eine Tabuverletzung begonnen, die wir noch nicht richtig verarbeitet haben. Das hat das Herz unserer Demokratien berührt, die Menschenwürde. 
 
Dorn: Kommen wir zurück zur militärischen Verteidigungsbereitschaft auf Bürgerebene. Für mich gibt es da einen nicht wirklich aufzulösenden Gegensatz zum Geist des Bürgerlichen im Sinne des Erwerbsbürgers, der seine Existenz in Frieden aufbauen und genießen will. Sowohl Platon als auch Aristoteles gingen schon davon aus, dass dies zwei grundsätzlich unterschiedliche Menschentypen sind: auf der einen Seite der eben skizzierte Typ, auf der anderen Seite der Krieger, der das gesicherte Leben verachtet, ein Hitzkopf mit kurzer Lunte, der gern Held sein will. Oder freundlicher gesagt: der bereit ist, sich und sein Leben im Dienst an der großen Sache zu opfern. In der Neuzeit sollen die beiden Typen, „Bourgeois“ und „Citoyen“, nun plötzlich eins werden. Geht das denn? 
 
Richter: Wie problematisch Kriege sind, sieht man in jeder Hinsicht bei dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Die Ukraine braucht offensichtlich einen aggressiven Nationalismus, um ihre Bürgerinnen und Bürger zu motivieren. Sie sind trotzdem im Recht, sich zu verteidigen, aber diesen Nationalismus, der da hochkommt, finde ich problematisch als Nebeneffekt des Krieges. Wenn dieser Krieg vorbei ist und wir die Ukraine in Europa aufnehmen, wo sie hingehört, dann wird dieser Nationalismus vermutlich ein Problem sein.
 
Baum: Warum eigentlich? Nationalismus ist an für sich das Selbstbewusstsein eines Landes mit einer Tradition. Wir denken immer sofort an den wirklich hypertrophen Nationalismus. Aber Putin will dieses Land auslöschen. Er will es von der Landkarte verschwinden sehen als selbstständiges Gebilde. Das heißt also, die Ukrainer vertreten ihre Eigenart, ihre Kultur. Ich finde, das muss man ihnen zugestehen. Sie haben eine jahrhundertelange wechselvolle Geschichte mit den Russen. Mein Großvater ist Ukrainer, meine Mutter Russin. Das habe ich nie gemerkt.
 
Richter: Auf jeden Fall. Es wird oft zu wenig gesehen, wie wichtig die Nation und die Konstruktion von Nation war für die Entwicklung von Demokratie. Dieter Langewiesche etwa machte darauf aufmerksam, dass Nation ein Vehikel für Gleichheit war. Im 19. Jahrhundert hat die Idee der Nation das plausibel gemacht: Vor der Nation war jedermann, egal ob Bauer oder Adliger, ein Franzose beziehungsweise ein Deutscher. Nation hat den Gemeinschaftssinn geschaffen, der die Menschen dann auch befähigt hat, sich zu solidarisieren und etwa Steuern zu zahlen.

Dorn: Im Februar hat die dpa eine Umfrage veröffentlicht: Wie würden Sie sich verhalten, wenn es einen Angriffskrieg eines autoritären Staates gegen Deutschland gäbe? Gerade einmal 10 Prozent sagten, sie wären bereit, Deutschland und die Demokratie mit Waffen zu verteidigen – die Hälfte davon Reservisten der Bundeswehr. 24 Prozent sagten, sie würden möglichst rasch versuchen, aus Deutschland rauszukommen. Und 33 Prozent würden einfach versuchen, weiterzuleben wie vorher.
 
Baum: Die Leute machen sich überhaupt keine Vorstellung, was dann passieren würde. Das wäre Stalinismus. Sie würden sich in einem totalitären Regime wiederfinden. Das kann doch niemand wollen, oder?
 
Dorn: Mich schockieren diese 33 Prozent ebenfalls, die meinen, sie könnten sich mit einer oder in einer Diktatur schon irgendwie arrangieren. Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn hat auf diese Umfrage hin in der Welt geschrieben, in Deutschland gebe es kein „Wir“ mehr, es sei eine Ansammlung von „Ichlingen“. Hat jemand von Ihnen eine kluge Idee, wie man es schaffen könnte, eine größere Freiheitsliebe und also auch Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit zu wecken, ohne gleichzeitig identitätspolitisch überhitzte „Wirs“ zu schaffen? 
                                                                 
Baum: Historisch eine ganz wichtige Phase dafür war die 68er-Bewegung: Wir haben im Grunde den Staat reformieren wollen. Und das ist auch weitgehend gelungen. Wir haben das Grundgesetz zum Leben erwecken wollen. Bildung, Gleichberechtigung der Frau, ein neues Familienrecht, neues Hochschulrecht. Wir haben versucht, den Staat noch einmal neu zu gründen in der Verfassungswirklichkeit. Aber wenn wir auf die heutige Situation schauen: 16 Prozent AfD in den Umfragen. Und dazu Menschen, die keiner Partei angehören, aber dieser Demokratie mit Verachtung oder Gleichgültigkeit gegenüberstehen. Wir haben hier eine wachsende Herausforderung: Menschen, die eine Distanz haben zu unserer Demokratie und zu ihren Spielregeln. Das müssen wir sehr ernst nehmen.
 
Dorn: Was kann man tun? 
 
Baum: Also ich kann nur sagen, wir haben nach dem Krieg fast alles geschafft. Die Wiedervereinigung, die neue Ostpolitik, die Flüchtlingsbewegung. Vieles davon sah vorher hoffnungslos aus.
 
Dorn: Da fällt mir der Witz ein, den man eigentlich über Österreich erzählt: Es sei das einzige Land, das es schafft, voller Zuversicht in die Vergangenheit zu schauen ... Frau Richter, teilen Sie die Zuversicht von Gerhart Baum?
 
Richter: Auf jeden Fall weisen diese Diskussionen weit über den nationalen Rahmen hinaus. Es ist eine der interessantesten Fragen der Gegenwart, wie es liberalen Demokratien gelingt, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns auch, wie brutal die Herausforderung durch den Klimawandel ist, denn er wird ja ganz wesentlich von unserer fossilen Zerstörung finanziert. Weil wir uns abhängig gemacht haben von Russland, vom russischen Gas. In diesem Zusammenhang ist eine große Frage auch: Können liberale Demokratien damit umgehen, dass man den Menschen etwas abverlangt?
 
Baum: Ja, absolut.
 
Richter: Demokratien sind nicht Umfragen und sie leben nicht von Umfragen. Wir sollten nicht mit überhöhten Idealen arbeiten, auch nicht mit überhöhten Idealen, was Demokratie bedeutet. Dass Demokratie eigentlich nur Demokratie heißen darf, wenn sie rein ist. Demokratie muss mit diesen Ambivalenzen umgehen. Ich bin ein bisschen entsetzt, wie wenig der Bundeskanzler den Menschen abverlangt. Und völlig entsetzt von Ihrer Partei, Herr Baum.
 
Baum: Auf welchem Sektor meinen Sie?
 
Richter: Auf dem Klimasektor.
 
Baum: Ah, ja. Da bin ich auch nicht voll zufrieden. Auf der anderen Seite muss man natürlich sehen, dass man die Menschen mitnehmen muss. Man muss auch die Wirtschaft mitnehmen. Das wird Opfer kosten. Das wird unseren Lebensstand verändern. Wir müssen ohnehin anders leben. Wir hatten uns in einer bequemen Normalität eingerichtet. Das war wunderbar, in jeder Hinsicht. Und jetzt wachen wir auf. Ab und zu kamen Flüchtlinge, das war dann schon ein Riesenthema. Aber heute sind wir im Angesicht ganz anderer Bedrohungen und ich sehe mit Zufriedenheit, dass der ganze Bundestag, mit Ausnahme des Randes, in den elementaren Fragen zusammensteht. Und weil wir vorher von Hoffnung sprachen: Alle Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen für die Demokratie ist und übrigens auch für Europa. Europa ist unsere Zukunft. Wir haben keine andere als in Europa. •

 

Thea Dorn ist Schriftstellerin, Philosophin und Autorin preisgekrönter Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Essays. Außerdem ist sie leitende Moderatorin des „Literarischen Quartetts“. Ihr jüngstes Buch: „Trost. Briefe an Max“ ist 2021 bei Penguin erschienen. 

Gerhard Baum ist Politiker, Rechtsanwalt und Autor. Seit den 50er Jahren gestaltet er die Geschicke in Deutschland mit und ist als einer der großen liberalen Denker und profilierter Vertreter des linksliberalen Flügels der FDP anerkannt. Er war Parlamentarischer Staatssekretär (1972-1978) und wurde schließlich zum Bundesminister des Innern berufen (1978-1982).

Hedwig Richter ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschung fokussiert u. a. auf die europäische und transatlantische Geschichte im 19. und 20. Jh., auf Fragen der Nationsbildung, der Demokratie- und Diktaturgeschichte sowie der Demokratie im Anthropozän. Ihre Publikationen „Demokratie – eine deutsche Affäre“ (2020) und „Aufbruch in die Moderne“ (2021) fanden weithin Beachtung.

Seit 2018 veranstaltet die Wüstenrot Stiftung gemeinsam mit Thea Dorn die Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“. Zu den öffentlichen Gesprächsabenden im Theaterhaus in Stuttgart, werden in der Regel zwei Gästen aus Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft eingeladen, um aktuelle Themen zu erörtern. Die Wüstenrot Stiftung arbeitet seit 1990 ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und realisiert sie selbst Projekt und fördert darüber hinaus die Umsetzung herausragender Ideen und Projekte anderer Institutionen durch finanzielle Zuwendungen. Weitere Informationen zur Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ finden sich unter diesem Link.

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