Axel Honneth: „Harte Arbeit wird gar nicht mehr wahrgenommen“
In der Demokratie sollen sich Bürgerinnen und Bürger politisch engagieren. Doch was, wenn die tägliche Arbeit das kaum noch zulässt? Der Philosoph Axel Honneth spricht im Interview über einen blinden Fleck der Demokratietheorie, die Notwendigkeit neuer Arbeitsstrukturen und den falschen Gegensatz von Sozial- und Identitätspolitik.
Herr Honneth, Ihre Benjamin Lectures, die vom 16. bis zum 18. Juni in Berlin stattfanden, trugen die Überschrift Der arbeitende Souverän. Sie beschäftigen sich darin mit einem demokratietheoretischen Problem, das einem praktisch überaus relevant erscheint: Einerseits erwartet die liberale Demokratie, dass Bürgerinnen und Bürger sich am politischen Prozess beteiligen und auch dementsprechend gut informiert sind. Andererseits müssen sehr viele Menschen jedoch ein Großteil ihrer Zeit aufbringen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder Reproduktionsarbeit verrichten, sodass für die Teilnahme am politischen Prozess bisweilen wenig Ressourcen bleiben. In der Demokratietheorie wird diese Spannung jedoch kaum thematisiert. Warum?
Das mag zunächst ganz einfache Gründe haben, etwa den, dass Philosophen mit der klassischen Arbeitswelt womöglich gar nicht so oft in Berührung kommen. Zudem sind bestimmte Arbeitssektoren, insbesondere jene, in denen harte körperliche Arbeit verrichtet wird, im öffentlichen Bewusstsein wenig präsent. Es gibt aber auch zwei demokratietheoretisch interne Gründe. Der eine besteht darin, dass der Arbeitsmarkt oft als eine Art Gesetzmäßigkeit verstanden wird, in den einzugreifen eine politische Unmöglichkeit zu sein scheint. Dafür sei er zu komplex und unterliege zu sehr seinen eigenen Gesetzen. Dies spielt auch in den Theorien von Jürgen Habermas und John Rawls eine gewisse Rolle. Aus deren Sicht ist der Arbeitsmarkt ein notwendiges Übel. Ein Übel, weil er einerseits zu enormen Benachteiligungen und sinnloser, repetitiver Arbeit führt. Notwendig, weil man ohne das Spiel von Angebot und Nachfrage viele Arbeiten gar nicht erledigt bekäme. Um beispielsweise die Charité mit gutem Personal auszustatten, muss man mit finanziellen Anreizen operieren. Dadurch erscheint der Arbeitsmarkt wie eine Grauzone, die philosophisch nicht weiter durchdringbar ist. Der zweite Grund: Wir haben uns angewöhnt, Gerechtigkeitsfragen vor allem in Bezug auf den sozialen Gleichheitsgrundsatz zu debattieren. Die Frage lautet also immer: Wie sorgen wir dafür, dass unsere sozialen Verhältnisse diesem Gleichheitsprinzip möglichst nahe kommen? Schaut man nun jedoch auf die Arbeitswelt, scheint es absurd, hier nach Gleichheitsbedingungen zu suchen. Man muss sich selbstverständlich gegen Diskriminierungen aussprechen, das haben auch Rawls und Habermas immer getan, aber wenn es darum geht, wie sich besonders sinnlose oder harte Arbeit besser gestalten lässt, hilft der Gleichheitsgrundsatz nicht mehr weiter. Die Frage lautet dann nämlich nicht: Wie kann ich Arbeitsverhältnisse angleichen? Sondern: Wie kann man die Arbeit, je nach Sektor und Branche, möglichst gut einrichten, so eben, dass sie etwa einer besseren Ermöglichung von demokratischer Teilnahme dient.
Sie machen die Bedeutung der Arbeitswelt für die demokratische Praxis nun anhand von vier wesentlichen Aspekten stark. Der erste besteht darin, dass im Beruf maßgeblich die Erfahrung von Inklusion und Mitbestimmung eingeübt werden muss. Oder andersherum formuliert: Spüren Menschen im Job keinerlei Geltungskraft ihrer Anliegen und Überzeugungen, ist das auch ein Problem für die Teilnahme am demokratischen Diskurs.
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