Steffen Mau: „Wut kann Impulse setzen, aber keine Probleme bearbeiten“
Fragen der Identitätspolitik werden oft so kontrovers diskutiert, dass die Grautöne verschwinden. Der Soziologe Steffen Mau wirft im Gespräch einen differenzierten Blick auf die Debatte und erklärt, warum Sozial- und Identitätspolitik keine Gegensätze sind, er seinen Studierenden dennoch den „S-Bahn-Ring-Test“ empfiehlt.
Herr Mau, das Thema der Identitätspolitik wird nun schon seit längerem breit und kontrovers diskutiert. Aber gerade deshalb scheint in der Debatte bisweilen gar nicht mehr so richtig klar zu sein, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Wie würden Sie diesen als empirischer Sozialwissenschaftler fassen?
Zunächst einmal als eine Form der Politisierung, die sich stark auf kollektive Gruppenmerkmale und Zugehörigkeiten bezieht und daraus Mobilisierungsmöglichkeiten schöpft. Dadurch werden bestimmte Themen gesetzt, vor allem im Bereich der Anerkennungs-, Teilhabe- und Gleichstellungspolitik. Im Prinzip ist das natürlich auch überhaupt nicht neu, sondern war immer Teil sozialer Bewegungen. Selbst die Marx'sche Unterscheidung von „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ operiert ja letztlich mit Identitätspolitik. Für den Klassenkampf brauchte es nach Marx schließlich nicht nur eine Klasse auf dem Papier, sondern auch ein entsprechendes Klassen- oder Wir-Bewusstsein. Und der Klassenkampf selbst konnte dann ebenfalls wieder identitätsformierend wirken. Daran erkennt man aber auch schon: Identität ist immer ein Prozess, nichts, was einen unveränderlichen Kern besäße.
Sind deshalb eigentlich auch alle jene eher konservativen Praktiken zur Pflege einer vermeintlichen „Normalität“ – etwa das Hochhalten traditioneller Männlichkeitsbilder, das Absingen von Nationalhymnen oder das Werben für die „Kernfamilie“ – Formen der Identitätspolitik, nur laufen sie eben nicht unter diesem Begriff?
In allen institutionellen Arrangements, Hierarchien und Sozialkonstellationen steckt Identität, sei es auch „nur“, weil dort unausgesprochene identitätspolitische Vorannahmen mit einfließen. Das ergibt sich schon aus der historischen Gewachsenheit von Institutionen. Deshalb offenbaren sich aktuelle Konflikte ja auch oft darin, dass identitätspolitische Akteure betonen, dass das, was als universalistisch ausgegeben wird, eigentlich partikularistisch sei. Bestimmte Institutionen seien beispielsweise von „alten, weißen Männern“ gebaut, wenn ich dieses arg pauschalisierende Pejorativ einmal nutzen darf. Und das stimmt in gewisser Hinsicht natürlich auch. Zumal der Hinweis darauf, dass symbolische Herrschaft sich oft mit dem Mantel des Selbstverständlichen umgibt, ja eigentlich eine klassische Bourdieu'sche Analyse von Institutionen ist. Was diese beiden Formen von Identitätspolitik jedoch unterscheidet: Die Identitätspolitik neuer Art ist vornherein durch eine starke Politisierung gekennzeichnet und formuliert den Identitätsbezug offen. Die andere Form wirkt hingegen gerade dadurch, dass sie sich als natürlich und nicht-identitär ausgibt. Deshalb ist die neue Form der Identitätspolitik auch angreifbarer, weil sie eben direkt als politische zu erkennen ist. Die ältere Form kann sich indes hinter dem Apolitischen verstecken. Der Konflikt zwischen beiden ergibt sich deshalb auch daraus, dass die neuere Form die ältere in den Bereich des Politischen zu ziehen versucht, um die unausgesprochenen Annahmen, die mit ihr einhergehen, sichtbar zu machen.
Wer sind denn die Trägergruppen dieses Konflikts? Oft heißt es ja, es stünden sich junge, urbane sowie gut gebildete Eliten und ökonomisch prekäre sowie kulturell konservative Arbeiterschichten gegenüber. Stimmt das tendenziell?
Man muss hier generell zwischen Sprechergruppen und den breiteren Bezugskollektiven unterscheiden. Denn die Sprechergruppen bestehen meist aus Menschen, die recht gebildet sind und oft selbst zu den Meinungseliten gehören oder dabei sind, zu ihnen zu stoßen. Die jeweiligen Bezugskollektive sind aber wesentlich größer und heterogener, auch in ihren Meinungen. Nicht jeder Diskursvorstoß kann für sich in Anspruch nehmen, breite Resonanz zu finden, nicht einmal bei jenen, für die man sprechen möchte. Andererseits ist es auch nicht so, dass hier nur elitäre Minoritätenthemen verhandelt werden, vieles ist kommunikativ anschlussfähig und findet Zustimmung. Schaut man sich die empirischen Daten an, etwa Umfragen zum Adoptionsrecht für Homosexuelle oder zur Anerkennung von Transgender-Identitäten, zeigt sich, dass die deutsche Gesellschaft insgesamt relativ liberal ist, es also nur einen kleinen Teil von Menschen gibt, die Genanntes ablehnen. Ein Großteil derer, die für Gleichstellungs- und Teilhabepolitiken sind, steigen jedoch dann aus, wenn der Diskurs stark an Vehemenz gewinnt. In einer Studie, die wir an der Humboldt-Universität gerade zu diesem Thema vorbereiten, haben wir das „Triggerpunkte“ genannt. Das sind jene Momente, an denen größere Teile der Bevölkerung Gleichstellungsforderungen nicht mehr teilen, weil diese gegen ihre Intuitionen oder Gerechtigkeitsauffassungen verstoßen.
Was wäre ein Beispiel für solch einen „Triggerpunkt“?
Die Leute sind auf einer allgemeinen Ebene recht anerkennungsfreundlich, wenn es um die Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung von Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten geht, steigen womöglich aber aus, wenn spezielle Schwimmzeiten für Transgender-Personen in öffentlichen Schwimmhallen gefordert werden. Neue Sprachregelungen können Vorbehalte auslösen, etwa, dass der Begriff Flüchtling nun problematisch und im diskursiven Raum nicht mehr angemessen sei, wohingegen der Begriff Geflüchtete als unbedenklich und zu bevorzugen gilt. Ganz unabhängig von der individuellen Sicht auf Fluchtmigration, können solche Rahmungen dann zu Kontroversen und auch Unverständnis führen. Da braucht es schon ein gewisses Maß an diskursiver Einstimmung, um bei diesen Debatten trittsicher dabei zu sein. Das kann aber eben auch Affekte der Aversion auslösen, welche die tatsächlichen Meinungsdifferenzen überkonturieren.
In den letzten Jahrzehnten wurden hierzulande ja immer wieder identitätspolitische Kämpfe um Anerkennung geführt, man denke nur an die nicht allzu lang zurückliegende Debatte um „Jammerossis“ und „Besserwessis“. Die aktuellen Kontroversen scheinen bisweilen aber noch schärfer geführt zu werden. Warum?
Zum einen spielen hier sicher die sozialen Medien eine große Rolle, zum zweiten aber auch die Tatsache, dass der Diskurs globalisiert ist und schnell über Ländergrenzen hinwegschwappt. Zum dritten ist das entscheidend, was mein Kollege Aladin El Mafaalani das Integrationsparadox nennt und auf das Tocqueville-Paradox zurückgeht, welches der gleichnamige französische Denker in seinem 1835 erschienen Buch Über die Demokratie in Amerika herausgearbeitet hatte. Dieses besagt: Je kleiner die Ungleichheiten werden, desto größer ist die Sensibilität für die noch verbleibenden Ungleichheiten. Eine egalisierende Struktur, wie Tocqueville sie damals in den USA beobachtete, führte eben nicht dazu, dass die Klassenrivalitäten verschwanden, sondern die Restungleichheiten wurden im Gegenteil noch energischer thematisiert. Vor diesem Hintergrund hat El Mafaalani darauf hingewiesen, dass sich hierzulande die erste Migrationsgeneration oft still in die ihr vorgegebenen Rollen gefügt hatte, während durch gewachsene Aufstiegs- und Artikulationsmöglichkeiten Fragen der Teilhabe nun stärker zum Thema gemacht werden. Das heißt natürlich keineswegs, dass alle Diskriminierungen und strukturellen Ungleichheiten beseitigt wären. Es heißt aber schon, dass eine verstärkte Debatte auch das Resultat von Integrationserfolgen und veränderten Bewusstseinsformen sein kann. Für das Thema der Ostdeutschen gibt es Anzeichen für eine ähnliche Entwicklung.
Eine zentrale Kritik gegenüber identitätspolitischen Forderungen besteht indes darin, dass die entsprechenden Gruppen nur eigene Interessen vertreten und damit die Gesellschaft spalten würden.
Genau genommen stecken da sogar gleich zwei Kritiken drin. Zum einen der Vorwurf des Kulturessentialismus, wonach Identität nicht als fluides Konstrukt, sondern vielmehr als eine Art unveränderlicher Wesenskern verstanden wird, was dann Gruppengrenzen als kategorial erscheinen lässt. Zum anderen der Vorwurf des Identitätsseperatismus, durch den gesellschaftlich immer feinere Differenzierungen vorgenommen werden, sodass jeder nur noch für die eigene Gruppe spricht und das Gemeinwohl, das Einigende, aus dem Blick verliert. Beides sind potentielle Gefahren, die nicht völlig von der Hand zu weisen und in den zuweilen überreizten und übererregten Debatten auch erkennbar sind. Dass Gruppen jedoch lautstark und energisch ihre Interessen artikulieren, ist zunächst natürlich völlig legitim. Zumal das, was unter dem Begriff der Identitätspolitik eingefordert wird, in der Regel ja schlicht die Durchsetzung jenes Gleichheitsversprechens der liberalen Demokratie ist, wonach es keine Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Geschlecht geben darf. Wichtig scheint mir dabei nur, dass dies dann auch in einen argumentativen Rahmen überführt werden muss. Reduzierte man nämlich alles auf Identität, hätte man auch ein politisches Problem. Bei Macht, Ressourcen oder Rechten geht es in der Regel nämlich um teil- oder erweiterbare Güter. Identität ist letztlich jedoch unteilbar, was sich ja auch zeigt, wenn etwa betont wird, dass bestimmte Erfahrungen von anderen nicht nachvollzogen werden können. Um sich nicht in einem Essentialismus zu erschöpfen, der gesellschaftlich wenig bearbeitbar wäre, sind identitätspolitische Forderungen deshalb sicher gut beraten, ihre Argumente auch in den Kategorien von Rechten, Ressourcen und Positionen stark zu machen.
Was braucht es dafür?
Es gibt dabei immer Anforderungen an beide Seiten. Jene, die eine identitätsbezogene Orientierung haben, müssen ihre Argumente so übersetzen, dass sie politisch verhandelbar werden. Auch eine pauschale Delegitimation von Sprecherinnen und Sprechern, die als privilegiert verstanden und schubladisiert werden, erscheint mir kontraproduktiv. Zugleich gibt es keine epistemische Überlegenheit der Betroffenen, denn aus subjektiven Erfahrungen lässt sich noch kein Wahrheitsanspruch für die Beurteilung bestimmter politischer Fragen ableiten. Die Gegenseite muss wiederum über eine Empfänglichkeit für Argumente verfügen, die nicht die eigenen sind und die etablierten Sichtweisen irritieren. Es braucht die Bereitschaft, die eigenen Positionen zu dezentrieren, sozial zu lernen. Zugleich gibt es aber auch eine Pflicht der Privilegierten, diesen „anderen“ Stimmen ein Raum zu verschaffen, in dem gemeinsam über die gesellschaftlichen Spielregeln verhandelt werden kann. Es kommt in der Identitätspolitik darauf an, die eigenen Erfahrungen zu nutzen, um sich argumentativ stark zu machen. Das bedeutet aber auch: Auf eigene Erfahrungen zu verweisen allein reicht nicht, sondern es braucht auch immer eine gesellschaftsanalytische Komponente, etwa die Fähigkeit Institutionen zu lesen, Verteilungsverhältnisse zu verstehen oder Mobilitätsstrukturen zu analysieren. Wenn das gelingt, kann die Demokratie weiterhin jene Inklusionsmaschine sein, die sie historisch auch immer wieder war.
Erzeugt dieser Prozess der Inklusion aber nicht deshalb auch so starke Reibungen, weil es am Ende um die Umverteilung von Machtpositionen geht, die in modernen Gesellschaften eben per se begrenzt sind?
Mir scheint das nicht notwendigerweise ein Nullsummenspiel zu sein. Das ist besonders bei Fragen von Anerkennung, Rechtsstatus oder Sprache so, in anderen Feldern sieht es vermutlich anders aus. Aber Machtverschiebungen sind zu einem hohen Prozentsatz generationaler Natur. Sozialer Wandel vollzieht sich stark über die Abfolge der Generationen. Wenn sich etwa ein 60jähriger Intendant oder ein gut bestallter Professor nunmehr bestimmten Diskussionen stellen muss, verliert er nicht seine Position, allenfalls ein paar Selbstverständlichkeiten. In Folgegeneration wird es dann womöglich so sein, dass Zuwanderergruppen oder Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen mehr Machtpositionen bekommen, aber eine ganz direkte Rivalität lässt sich da zunächst nicht erkennen. Es kann sogar eine verbale Aufgeschlossenheit der Älteren geben, weil es sie kaum betrifft.
Wäre das aber nicht mindestens bei Migranten- oder Frauenquoten der Fall? Die führen doch sehr direkt dazu, dass weiße Männer tendenziell ihre bis dato privilegierten Machtzugänge verlieren.
In etlichen Feldern, etwa bei Dax-Vorständen, mag das zutreffen, ja. Wobei aber grundsätzlich die Frage wäre, wie weit solche Ansätze führen, die stark über Personeneigenschaften laufen und andere Strukturen unangetastet lassen, sodass ein Dax-Vorstand dann zwar vielfältiger wird, sich sonst aber relativ wenig ändert. Die Philosophin Nancy Fraser hat in diesem Zusammenhang ja den Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ geprägt, in dem sich die Diversität in Führungsetagen erhöht, aber darüber hinaus keine Strukturanpassungen folgen. Emanzipation, die sich im Diversitätsdiskurs erschöpfe, so Fraser, sei recht kapitalismuskompatibel. Exemplarisch lässt sich das ja im Silicon Valley beobachten: Der Kapitalismus vermag Forderungen nach Vielfalt aufzunehmen, ja sogar zum Teil des Geschäftsmodells zu machen, ohne dass sich in anderen Bereichen strukturell etwas ändert. Aber es gibt natürlich auch Diskussionen, die aufs Strukturelle zielen: Bei den Fürstenstrukturen in Theatern wird ja beispielsweise über die Neuverteilung von Macht durch organisatorische Reformen und andere Leitungsstrukturen diskutiert. In zahlreichen Arenen hat sich die Forderung nach Diversität erhöht, was durchaus auch machtpolitische Verschiebungen nach sich ziehen kann.
Das Verhältnis von Sozial- und Identitätspolitik wird in der gegenwärtigen Debatte ja oft als Spannung oder gar Gegensatz beschrieben. Nach dem Motto: Der Opel-Arbeiter habe nichts von Diversitätsoffensiven. Stimmt das? Oder handelt es sich um einen falschen Kontrast?
Diesen vermeintlich starken Gegensatz zwischen Sozial- und Kulturlinken sehe ich so nicht. Auch schon deshalb, weil die gesamte Sozialstruktur heterogener geworden ist. Und zwar nicht nur in der urbanen, akademischen Mittelklasse, sondern auch am unteren Ende der Gesellschaft. Der Opel-Arbeiter, der eine lange Familientradition in der entsprechenden Gegend hat, ist dementsprechend gar nicht mehr der typische Fall. Insbesondere bei den jüngeren Kohorten in den größeren Städten gibt es mittlerweile einen migrantischen Anteil von 30 bis 40 Prozent. Insofern werden hier bisweilen auch Bezugsgruppen imaginiert, die es so gar nicht mehr gibt. Und im Rahmen dieser veränderten Sozialstruktur sind identitätspolitische Themen natürlich von Bedeutung – in der Mischung mit Sozialpolitik. Beides sollte also zusammen gedacht werden. Und ich sehe auch gar keinen inhärenten Widerspruch, der das unmöglich machen sollte. In den öffentlichen Aufmerksamkeiten kann es aber schon sein, dass es da Konkurrenzen gibt und sich Alleinerziehende in schwierigen ökonomischen Verhältnissen zu wenig wiederfinden.
Warum streiten linke Parteien dennoch so energisch über das Thema? Bei der SPD sah man es jüngst wieder anhand der Thierse-Debatte, in Die Linke aktuell aufgrund des neuen Buchs von Sarah Wagenknecht und selbst bei den Grünen formierte sich kürzlich eine Gruppe, die öffentlich einen Aufruf gegen vermeintliche „Cancel Culture“ lancierte.
Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Identitätspolitik teilweise einen sehr elaborierten Sprachcode pflegt, der auch ausschließend sein kann. Es gibt also diese Dialektik, dass Sprache, die versucht inklusiv zu sein, sozial auch exklusiv zu wirken vermag. Und wenn es einerseits die oft artikulierte Forderung gibt, Politik solle eine einfache Sprache ausbilden, um auch untere Schichten zu erreichen, die identitätspolitisch inklusive Sprache andererseits aber bisweilen nur sozial- und kulturwissenschaftlich vorgebildeten Akademikern zugänglich ist, dann ergibt sich daraus ein Spannungsverhältnis. Das Akronym LGBTQIA* ist ja nicht nur ein Sammelbegriff nicht-heteronormativer Gruppen und sexueller Orientierungen, sondern auch ein elaborierter Sprachcode, der nicht von allen entschlüsselt werden kann. Es geht somit stets auch um die Frage, wie anschluss- und kommunikationsfähig politische Programmatiken sind. Ich empfehle meinen Studierenden deshalb auch immer, einmal den S-Bahn-Ring-Test zu machen: Fahrt mit der Berliner S-Bahn drei Stationen über den Innenstadtring hinaus und versucht mit der nächstbesten Person über jene Dinge, die wir hier im Seminar oder in den akademischen Milieus diskutieren, ins Gespräch zu kommen. Das ist schwierig, weil vieles von dem, was an Universitäten oder in politischen Kreisen besprochen wird, nicht so einfach zu übersetzen ist. Es fehlt oft schlicht die Anschlussfähigkeit für Alltagserfahrungen von Menschen aus anderen sozialen Milieus. Und wenn man sich das einmal eingesteht, sieht man, dass eine inklusive Sprache, die ich persönlich an vielen Stellen durchaus richtig finde, von vielen Menschen als Elitenphänomen und exkludierend gesehen wird. Und deshalb lässt sich auch gut Gemeintes nicht so einfach in die Gesellschaft hineindiffundieren.
Woher kommt in Teilen der Bevölkerung diese vehemente Ablehnung von inklusiver Sprache?
Sprache ist immer eine Form symbolischer Macht. Dabei ist sie natürlich auch wandelbar, zu Recht sagen wir heute etwa viele Dinge nicht mehr, die bis vor nicht allzu langer Zeit noch üblich waren. Wenn bestimmte Veränderungen der Sprache von Menschen hingegen als bevormundend wahrgenommen werden, hat das auch damit zu tun, dass Sprache sehr stark in das Individuelle eingreift. Sprache und Sprachgewohnheiten sind ja Teil unserer Identität. Haben Menschen dann das Gefühl, dass sie etwas nicht mehr dürfen, entsteht mitunter ein psychologisches Muster der Reaktanz. Es wird zum Teil gar nicht aus inhaltlichen Gründen abgelehnt, sondern „nur“, weil es einem vermeintlich vorgeschrieben werden soll. Will man die Sprache verändern, sollte man also womöglich nicht so vorgehen, dass im Ergebnis mitunter das Gegenteil erreicht wird. In Ostdeutschland bringen sprachpolitische Eingriffe noch ganz andere Saiten zum Klingen. Da hört man dann oft von der „geflügelten Jahresendfigur“ oder dem „vorweihnachtliche Kalender“ für Weihnachtsengel oder Adventkalender als kolportierte Beispiele für verkorkste Spracheingriffe. Überhaupt war die offiziöse Sprachpolitik im Staatssozialismus eine Groteske, die aber nun nachhallt. Es gibt insgesamt vermutlich Vorbehalte erster und zweiter Ordnung: Erster Ordnung wäre jene, die sich auf die hinter diesen Sprachentwicklungen stehende Konzepte beziehen, zweiter Ordnung jene, die Konzepte von Gleichstellung und Anerkennung zwar grundsätzlich akzeptieren aber dennoch – aus unterschiedlichen Gründen – starke Formen der sprachpolitischen Eingriffe ablehnen. Diese Unterscheidung wird aber selten hergestellt.
Identitätspolitische Veränderungen auf der Sprachebene sollten also anschlussfähig an breite Gesellschaftsteile bleiben?
Ja, sie sollten Anknüpfungsmöglichkeiten an die alltäglichen Erfahrungen und das „doing identity“ erlauben, um dort dann auch wirklich einzuwurzeln. Es ist oft entscheidend, dass Sprache nicht als abstrakt und formelhaft empfunden wird. Die offene Frage ist also: Wie schafft man diesen Übertrag von den einen Milieus in andere, um Ideen möglichst niedrigschwellig in die Welt zu bringen.
Identitätspolitik findet sich indes nicht nur im Kontext von Gender, Hautfarbe und Migration, sondern auch in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung. So lässt sich etwa beobachten, dass in Ostdeutschland auch unter jüngeren Leuten, die teilweise gar nicht mehr in der DDR geboren wurden, „ostdeutsch“ – wieder – als Identitätsmarker dient. Gibt es also auch eine Art neuer ostdeutscher Identitätspolitik?
Es gibt zumindest einige, die das einfordern. Ich selbst bin da hingegen äußerst skeptisch. Das, was ich an ostdeutscher Identitätspolitik sehe, finde ich zum Teil interessant, aber mitunter auch erschreckend …
Zum Beispiel?
Pegida ist ja auch eine Form ostdeutscher Identitätspolitik. Aus dem subjektiven Gefühl der Diskriminierung und sozialer Benachteiligung wurde da versucht, ein – mit Nationalismus und Rassismus aufgeladenes – Kollektiv zu konstituieren, um sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Hier handelt sich also um eine Form der Identitätspolitik, die nicht emanzipatorisch ist, weil sie schon ganz bewusst Ausschlüsse mitproduziert. Und das zeigt, dass Identitätspolitik als solches auch auf der rechten Seite angesiedelt sein kann.
Wenn man nun nochmal auf die emanzipatorische Formen der Identitätspolitik blickt: Wie sehen Sie die Zukunft dieser Debatte?
Die Gesellschaft muss sich derzeit neu ausbalancieren, da sich gerade eine enorme Pluralisierung vollzieht, auch in den Meinungsdiskursen. Dabei ist meine Hoffnung, dass man einen Rahmen findet, in dem solche Konflikte bearbeitbar gehalten werden. Das setzt zunächst voraus, dass die Gesellschaft ein Selbstverständnis dafür entwickelt, dass sie nicht mehr diejenige der 1950er Jahre und auch nicht mehr der 1980er Jahre ist, sondern es im Jahr 2021 eine unglaublich diverse, lebendige und artikulationsfreudige Gesellschaft gibt. Dass sich so viele Gruppen öffentlich zu Wort melden, ist ja eine enorme Errungenschaft. Und ich würde mir wünschen, dass die Haltungen und Sprechweisen in der Debatte erst einmal von wechselseitigem Respekt und Zivilität geprägt sind, sodass man sich mit den jeweiligen Erfahrungen und ohne denunziatorische Untertöne austauschen kann.
Ist Wut, zumal wenn sie durch biographische Erfahrungen entstanden ist, aber nicht auch eine legitime politische Ressource?
Ja, das kann sie sein, sie ist ja auch eine Antriebskraft politischer Mobilisierung. Aber sie darf nicht erwarten, dass sie sich im politischen Miteinander durchsetzt. Sie kann Impulse setzen, aber es wäre naiv zu glauben, dass sich in der Sprache der Wut Probleme bearbeiten lassen. Das geht nur mit Austausch, Konsens oder Kompromiss, wobei man hier immer auch den legitimen Anspruch auf physische Unversehrtheit und Diskriminierungsfreiheit marginalisierter Gruppen als allgemeine Geschäftsgrundlage mitdenken muss.
Da Sie ihn anfangs kurz erwähnten: Würde es sich vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten auch lohnen, noch einmal bei Pierre Bourdieu nachzulesen. Schließlich beschäftige dieser sich seiner Zeit ja mit ganz ähnlichen Themen.
Die Begrifflichkeiten der symbolischen Macht oder der Benennungsmacht, die mit der Frage verbunden sind, wer sich eigentlich wie legitim äußern darf und welche Klassifikationen nutzbar sind, sind natürlich hochaktuell. Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich aber insofern von Bourdieus Analysen, als dass wir aktuell eine von den Bildungseliten und aktivistischen Gruppen getragene Bewegung sehen. Die wesentlichen Impulse kommen heute von hochgebildeten, artikulationsfähigen und auch mediennahen Personen. Bourdieu hatte hingegen immer auf die Arbeiterklasse geschaut. Und wenn er auf Intellektuelle blickte, dann als potentielle Alliierte der Arbeiterschaft.
Wäre solch eine Allianz, wie sie Bourdieu im Blick hatte, heute noch möglich?
Guckt man in die Geschichte, so war die 68er-Bewegung in Deutschland eine vornehmlich universitäre Bewegung, die die Gesellschaft aber dennoch als Ganzes veränderte. Denn Eliten sind natürlich auch immer Trägerschichten des sozialen Wandels, nicht zuletzt deshalb, weil sie kommunikationsstark sind. Insofern lässt sich nicht sagen, dass soziale Bewegungen nur von unten erfolgreich wären. Gleichwohl sind Eliten auch heute gut beraten, sich an der Bezugsgesellschaft zu orientieren, indem sie erkennen, wo jene Antennen stehen, in deren Richtung sie funken müssen. •
Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht u.a. zu den Themen soziale Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration und Migration. 2021 erhielt er den renommierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Von seinem Bestseller „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ wurde letztes Jahr die Taschenbuchversion (Suhrkamp, 2020) veröffentlicht. Demnächst erscheint von ihm „Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ (C.H. Beck, 2021).
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