Bourdieu und der Habitus
Im Zentrum von Pierre Bourdieus Hauptwerk Die feinen Unterschiede steht der „Habitus“. Eine Art Stallgeruch, der Einfluss auf die Eigen- und Fremdwahrnehmung eines Menschen hat. Über ein System von Grenzen und Möglichkeiten im Zeitalter der Globalisierung.
Frau D. ist um die 50 und betreibt gemeinsam mit ihrem Mann eine kleine Bäckerei in der französischen Alpenstadt Grenoble. Vor Kurzem hat sich das Ehepaar in einem Vorort ein Haus gekauft („kein großer Luxus, gerade richtig“), umgeben von einem „sehr gepflegten“ Garten, drinnen alles stets picobello aufgeräumt. Die Möbel hat Frau D. mit Bedacht ausgesucht, nicht zu „modern“, sondern etwas „Klassisches“, „das zu meinem Alter passt“. Hin und wieder geht sie zum Frisör (schließlich „muss man sich ein bisschen zurechtmachen“). Allerdings schminkt sie sich nicht (auf dem Land, wo sie aufgewachsen ist, „gehörte es sich nicht, vor dem Spiegel zu stehen“). In ihrer knappen Freizeit sieht sie sich am liebsten „lustige“ Sendungen an. Jedes Jahr macht sie zwei bis drei Wochen Urlaub mit dem Wohnwagen (ihr Mann „kann Hotels nicht ausstehen“).
Sechs Seiten lang kommt die brave Bäckerin in einem der einflussreichsten soziologischen Werke des 20. Jahrhunderts zu Wort – Pierre Bourdieus 1979 in Frankreich veröffentlichter Mammutstudie Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Wie all die zahlreichen darin versammelten Fallbeispiele, Schaubilder, Statistiken dient auch die Selbstauskunft von Frau D. dazu, Bourdieus filigran ausgearbeitete These zu stützen, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Es gibt keine „reinen“, von sozialen, machtstrategischen oder sonstigen Interessen befreiten Geschmacksurteile, wie Kant es uns einst weismachen wollte. Kunst und Kultur, egal wie erhaben, verfeinert und „zweckfrei“ sie daherkommen, werden niemals nur „um ihrer selbst willen“ geschätzt.
Unser vermeintlich individueller Geschmack, so Bourdieu, ist letztlich alles andere als Ausdruck unserer Individualität, sondern entscheidend im sozialen Milieu, dem wir angehören, verankert. Wobei hier mit „Geschmack“ nicht nur Musik- und Lektürepräferenzen gemeint sind, sondern auch Dinge wie Ernährungsgewohnheiten, Bekleidungsstil, Freizeitverhalten und letztlich auch moralische und weltanschauliche Überzeugungen. Hinter jeder noch so harmlos daherkommenden Alltagsroutine oder Konsumentscheidung wie etwa Frau D.s Entschluss, sich eine graue Wohnzimmercouch zu kaufen („bei dem Farbton kann man sich getrost draufsetzen“), scheint die hierarchische Gesellschaftsstruktur durch.
Natur gewordene Gesellschaft
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Umberto Eco im Gespräch: "Die Sprache ist eine permanente Revolution"
Seiner Herkunft nach Philosoph, wurde Umberto Eco als Romanautor und kosmopolitischer Essayist zu einer intellektuellen Legende. Die Leichtigkeit, mit der er alle Themen angeht, zeigt, dass Denken eine lustvolle Tätigkeit ist.
Umberto Eco war eine geheimnisumwitterte Figur. Wie ist aus diesem Kind einer einfachen Familie im Piemont der kosmopolitische Intellektuelle geworden, der er war? Als Enkel eines Druckers und Sohn eines Buchhalters verbrachte Eco den Krieg mit seiner Mutter in den Bergen, wo sich der Salesianerorden Don Bosco seiner annahm und in ihm die Liebe zu der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin wachrief. Wie ist aus dem Autor zweier erfolgreicher Mittelalterkrimis und ein paar ironischer Essays über den Zeitgeist ein Gelehrter geworden, der sich wie ein Magier von Peking über São Paulo nach Paris durch die Welt bewegte, um seine intelligente und vergnügte Meinung über den Triumphzug der Simulakren zum Besten zu geben, über den Niedergang des Buches, über Verschwörungstheorien – oder über Charlie Brown als „Moment des universellen Bewusstseins“? Um dieses Geheimnis zu lüften, haben wir uns mit ihm im Louvre getroffen, wo er 2012 auf Initiative des Instituts Transcultura eine Kommission von Künstlern, Architekten und Intellektuellen aus Europa und China versammelt hatte. Das Ziel? Die Einübung einer Art intellektueller Gymnastik, die seiner Meinung nach nötig ist, wenn es gelingen soll, in der großen Konfrontation zwischen den Kulturen, die sich vor unseren Augen abspielt, Orientierung zu finden. Das, was er „geistige Vielsprachigkeit“ nennt oder die Fähigkeit, nicht nur eine einzige Sprache zu sprechen, sondern die feinen und entscheidenden Unterschiede zwischen den Kulturen auszumessen.

Steffen Mau: „Grenzschließungen sind inhärenter Bestandteil der Globalisierung“
Globalisierung verbindet man meist mit offenen Grenzen. Im Interview erklärt der Soziologe Steffen Mau, warum das jedoch nur die halbe Wahrheit ist, wir in einer Art weltweiten Feudalgesellschaft leben und die Grenze der Zukunft uns schon kennt, bevor wir ankommen.

Mit Bourdieu im Banlieue
Vor der Wahl am Sonntag mobilisieren einige französische Parteien mit Anfeindungen gegen die Bevölkerung der Banlieues ihre Wählerschaft. Anhand Pierre Bourdieus Theorien wird deutlich, dass das wahre Problem in der Architektur der Stadt versteckt liegt.

Philipp Felsch: „Die Kritische Theorie funktionierte als BRD noir“
Nach ihrer Rückkehr aus dem US-Exil avancierten Horkheimer und Adorno zu intellektuellen Stars der Bundesrepublik. Kulturhistoriker Philipp Felsch erklärt, warum die Kritische Theorie durch ihre Zeit in LA einen Erfahrungsvorsprung besaß, alsbald einen Habitus der universellen Betroffenheit entwickelte und sich die Studenten schließlich von ihr abwandten.

Norbert Bolz: „Szenarien sind nicht die Wirklichkeit“
Der Klimakrise mit Angst zu begegnen, scheint der Sache angemessen. Oder zeigt sich hier ein bedenklicher Habitus unserer Zeit? Ein Gespräch mit dem Philosophen Norbert Bolz

Die Dialektik der Zukunft – 50 Jahre „Die Grenzen des Wachstums“
Das Buch Die Grenzen des Wachstums ist nicht nur eine der ambitioniertesten Studien zur Zukunft der Weltwirtschaft, sondern auch wesentlicher Treiber der Klimabewegung. Grund genug, um zum 50. Geburtstag des Werkes nach den Möglichkeiten der Zukunftsbestimmung zu fragen.

Das Denken im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Denken zu können, das unterscheidet den Menschen mutmaßlich von allen anderen Wesen. Doch worauf beruht dieses Vermögen? Heißt Denken Rechnen? Besteht sein Wesen in der Fähigkeit, eigene Urteile zu fällen? Oder läge an seinem Grund gar das erotische Begehren nach Weisheit? Vor allem aber: Wie können wir uns in der Kunst des Denkens schulen?
Im Zeitalter immer leistungsstärkerer Denkmaschinen könnte sich an diesen Fragen nicht weniger als die Zukunft unserer Art entscheiden. Höchste Zeit also, gemeinsam darüber nachzudenken
Online-Lehre und der Zauber der Abwesenheit
Mit der digitalen Vorlesung verschwinden weder Zauber noch Herrschaft. Im Gegenteil birgt sie ganz neue Möglichkeiten charismatischer Einflussnahme. So entsteht ein neues professorales Subjekt.
