Seid wütend, aber richtig!
In der Philosophiegeschichte galt die Wut lange als das schlimmste aller Gefühle. Dem Wahnsinn gleich, so die Befürchtung, sabotiert sie das Denken und zerstört das Gemeinwesen. Tatsächlich aber kann Wut zum Motor des Fortschritts werden. Vorausgesetzt, sie nimmt die geeignete Form an.
Wer wütend ist, ist aufgewühlt, hitzig, vielleicht sogar im Recht. Die Wut begegnet uns in Form des Wutbürgers, sie begegnet uns bei Pegida- und Corona-Demonstrationen. Und sie begegnet uns bei Black-Lives-Matter-Protesten in den USA. Oder bei Fridays for Future. Auch der erschütternde Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Wut im Politischen wieder auf die Tagesordnung geholt – und damit zugleich die Frage, wie mit dieser Reaktion eigentlich umzugehen ist. Ist Wut immer irrational? Was unterscheidet das Wütendsein der einen vom Wütendsein der anderen Gruppe? Gibt es Formen dieses Zustands, die wichtig und hilfreich sind?
Wer in der Philosophiegeschichte nach Antworten sucht, erkennt schnell: Die Wut genießt dort keinen guten Ruf. Die Stoiker, allen voran der Philosoph Seneca, lehnten die Wut kategorisch ab und strebten ihre vollständige Vermeidung an. Ihr Urteil war geprägt von einem Blick auf die Geschichte, in der sie im Zusammenhang mit Kriegslust und Rachsucht vor allem Leid und Zerstörung als Konsequenzen von Wut ausmachten. Wut war für Seneca immer mit Irrationalität, Kontrollverlust und Gewalt verbunden und damit eher dem Wahnsinn gleichzusetzen. Übermannt von rasenden Emotionen scheint die Vernunft außer Kraft gesetzt und der Verstand getrübt durch die kurzzeitige Intensität des erlebten Zustands. Andere Perspektiven oder Beweggründe lassen sich dann, folgt man den Stoikern, nicht mehr wahrnehmen, weil die eigene Kränkung so viel Raum einnimmt. Und wer hat nicht schon mal im Nachhinein bereut, was er jemandem in Rage versetzt an den Kopf geworfen oder vorschnell und rücksichtslos entschieden hat? So heißt es deshalb auch in Senecas Abhandlung über den Zorn (De ira): „Das wirksamste Mittel gegen den Zorn ist Aufschub.“ Innehalten, die Wut verpuffen lassen und sich dann mit distanziertem Blick auf die Situation ein Urteil bilden, lautet also die Devise. Und auch in der christlichen und buddhistischen Philosophietradition, die in vielerlei Hinsicht Parallelen zu den stoischen Ideen aufweisen, waren solch aufbrausende Gefühle den Idealen von Mäßigung und Demut stets diametral entgegengesetzt.
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