Rahel Jaeggi: „Fortschritt ist weder Fakt noch Ideal“
Markiert der Krieg in der Ukraine oder die Umweltzerstörung das Ende der Idee des Fortschritts? Das wäre zu kurz gedacht, meint die Philosophin Rahel Jaeggi und plädiert für ein Fortschrittskonzept ohne Ziel, jenseits von Kulturimperialismus und blinder Naturbeherrschung.
Frau Jaeggi, nicht nur der Ukraine-Krieg, sondern auch die Wiedererstarkung nationalistischer Bewegungen stellen – zumindest aus europäischer Sicht – lang als sicher geglaubte Fortschrittsvorstellungen in Frage. Lässt sich dennoch an einem Konzept des Fortschritts festhalten?
Ich könnte es mir jetzt leicht machen und sagen: „Wieso sollte denn die Idee des Fortschritts in Frage stehen, bloß weil es weltgeschichtlich Rückschritte gibt?“ Die Idee der Freiheit wird ja nicht automatisch obsolet, weil es Unfreiheit gibt, genauso wie die Idee des Glücks nicht obsolet wird, weil viele Menschen unglücklich sind. Man könnte demnach einfach sagen, Fortschritt ist ein Ideal, eine Idee und die ist gültig, egal was weltgeschichtlich passiert. Sie ist der Maßstab, an dem wir das, was passiert, messen können und solche Maßstäbe brauchen wir, gerade weil die Weltgeschichte nicht so verläuft, wie wir uns das wünschen. Ganz so einfach möchte ich es mir aber nicht machen. Natürlich macht es etwas mit unseren Normen und Idealen, wenn sie permanent nicht verwirklicht werden oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Und man muss sorgfältig prüfen, ob es etwas an diesen oder an unserem Umgang mit ihnen gibt, das ihre Verwirklichung verhindert oder ihre Verkehrung ermöglicht. Ob man am Konzept des Fortschritts festhalten kann, entscheidet sich dann nicht an den bloßen Fakten des Weltgeschehens. Weder dieser entsetzliche Angriffskrieg noch der Krieg gegen die Geflüchteten an den Grenzen Europas mit seinen permanenten und systematischen Verletzungen der Menschenrechte und den unzähligen Opfern widerlegt als solches die Idee des Fortschritts. Gleichzeitig aber ist Fortschritt eben auch nicht nur eine Idee, nicht nur ein normatives Ideal. Ohne die wirkliche Möglichkeit einer Veränderung – im Sinne eines in der Geschichte angelegten Potenzials für eine andere soziale Ordnung – ist es ebenso sinnlos am Fortschritt festzuhalten. Aber man kann die Sache noch von einer anderen Seite her betrachten.
Welche wäre das?
Wenn wir die täglichen Nachrichten verfolgen, erscheint der Gedanke an den Fortschritt vielleicht tatsächlich wenig naheliegend. Aber umgekehrt könnte man fragen: Legen diese Entwicklungen es nicht sehr nahe, auf den Begriff der Regression zurückzukommen? Aber damit sind wir schon wieder beim Konzept des Fortschritts. Denn Regression ist die andere Seite des Fortschritts. Beides ist unauflöslich miteinander verwoben. Sie beruhen beide auf einer bestimmten Vorstellung von Geschichte und einer Dynamik sozialen Wandels und sind dementsprechend umstritten.
Könnte man nicht so wie Friedrich Nietzsche sagen, dass man gerade am Krieg und dem damit einhergehenden Leid, das sich qualitativ nicht von dem Leid der vorherigen Kriege zu unterscheiden scheint, sieht, dass sich letztlich alles einfach wiederholt?
Nietzsches Idee des Immergleichen ist in diesem Zusammenhang deshalb interessant, weil durch ihn eine wichtige Prämisse deutlich wird: Das Festhalten an einem Fortschrittsbegriff, ebenso wie das Festhalten am Begriff der Regression, hängt tatsächlich an der Behauptung, dass sich eben nicht das immer Gleiche wiederholt. Selbst da wo Dinge scheinbar wiederkehren, tun sie das in einer historisch veränderten Situation, mit je anderen Voraussetzungen und als Reaktion auf die so überhaupt erst hervortretenden Problemlagen und Krisen. Das ist, im Unterschied zur Wiederkehr des Immergleichen, die Vorstellung einer sich anreichernden Geschichte. Dies impliziert weder eine optimistische Version von Geschichte noch den Gedanken, dass alles irgendwie besser wird. Wenn Fortschritt ein sich anreichernder Erfahrungs- bzw. Lernprozess ist, dann erweist sich umgekehrt Regression als eine Art des Verlernens, die mehr als ein bloßer Rückschritt ist. Was wir als Regressionen identifizieren können, sind Prozesse der defizitären Krisenbewältigung und der Lernblockaden. Sie sind falsche, unangemessene Reaktionen auf Krisen. Was in einem Regressionsprozess passiert, ist in mancher Hinsicht schlimmer als das, was vorher war. Aber auch das impliziert, dass es nicht das immer Gleiche ist.
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Ein philosophiegeschichtliches Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie Adorno und Horkheimer Faschismus als Regression aufgefasst haben. Auch hier zeigt sich, dass man kein Fortschrittsoptimist sein muss, um von Fortschritt und Regression zu reden, die Verfasser der Dialektik der Aufklärung waren ganz sicher nicht fortschrittsoptimistisch. Faschismus wird von den Autoren der frühen Frankfurter Schule zwar als Regression, aber gerade nicht als bloßer Rückfall in vormoderne Zustände aufgefasst. Im Gegenteil: Der Faschismus als Rückfall in „die Barbarei“ ist ein spezifisch modernes Phänomen. Er war in dieser bestimmten Form nur zu diesem Zeitpunkt möglich. Das gilt, nicht nur weil der deutsche Nationalsozialismus die Massenvernichtung von Menschen im industriellen Maßstab betrieben und mit modernsten logistischen Mitteln organisiert hat, sondern auch weil er das Resultat einer fehlgeleiteten Dynamik und der ungelösten Spannungsverhältnisse und Widersprüche der kapitalistischen Moderne selbst ist. Die „neue Art von Barbarei“ transportiert also nicht einfach einen früheren Typus der Gesellschaftsorganisation in eine andere Zeit. Das Rad wird nicht zurückgedreht, sondern es bewegt sich vorwärts, aber eben vorwärts im Modus einer fehlgeleiteten Krisenbearbeitung. Hier zeigt sich auch noch einmal der wichtige Unterschied zwischen Regression und Rückfall. Rückfälle gibt es immer. Bestimmte Dinge oder Institutionen, die wir für fortschrittlich halten mögen, können zurückgedreht, abgeschafft oder grob verletzt werden. Das ist aber als solches noch keine Regression. Regressionsprozesse sind Prozesse, die in irgendeiner Art und Weise im Geschehen und der Formation selber schon angelegt sind. Regression ist ein reaktiver Vorgang, eine Reaktion – und auch das legt nahe, dass es sich nicht um die bloße Wiederkehr des Immergleichen handeln kann.
Aber unterscheidet sich das Leid dieses Kriegs qualitativ von dem Leid der vorherigen Kriege? Ist es in dieser Hinsicht nicht doch die Wiederkehr des Immergleichen?
Da bin ich mir nicht so sicher. Im absoluten und moralischen Sinne ist es vielleicht immer das gleiche himmelschreiende Unrecht. Und auch auf der Ebene der Phänomene wiederholen sich natürlich Zerstörung, Verwüstung, Elend, Schmerz und Leid. In dieser Hinsicht gibt es vom Krieg um Troja über den Dreißigjährigen Krieg bis zu den beiden Weltkriegen und den Kriegen heute eine erstaunliche Kontinuität und wiederkehrende Muster. Die Frauen von Butscha sind in dieser Hinsicht nicht nur Leidensgefährtinnen der Frauen des trojanischen Kriegs, sondern auch der Frauen von all den Kriegen, die wir kennen. Und es kann ihnen egal sein, ob das, was ihnen angetan wird, unter Verletzung geltenden Kriegsrechts, geltender Konventionen oder einfach nur so passiert. Aber selbst das Basalste, das Zerschinden der Körper im Krieg, ist kulturell konnotiert. Der Gegner – und auch das machen gerade die in Kriegen systematisch auftretenden Vergewaltigungen der Frauen offensichtlich – wird nicht nur unschädlich gemacht, sondern auch kulturell und sozial gedemütigt. Dabei werden die Opfer auf Weisen gequält, die die kulturell konstituierten Schutzzonen verletzen, die Integrität der Personen in Frage stellen und letztlich die Institutionen des menschlichen Zusammenlebens beschädigen. Auch hier gibt es erstaunliche Kontinuitäten. Dennoch sind die Kriege und die Gewalt nicht einfach nur immer wieder das Gleiche, denn die industrielle Menschenvernichtung unterscheidet sich von der Gewalttätigkeit im Kampf um Troja, genauso wie das Leid von den in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu bloßem Material gemachten Soldaten von den Grauen eines möglichen Atomkriegs. Da ändert sich etwas. Und das nicht nur, weil die Mittel der Zerstörung andere werden.
Also könnte man meinen, Krieg als Fakt ist vielleicht im Phänomen das Gleiche, aber es ist qualitativ anders, weil wir eine andere Vorstellung von den Werten haben? Können wir es als Phänomen als das Immergleichbleibende beschreiben, das aber durch seinen historischen Kontext einen anderen qualitativen Wert bekommt?
Ich glaube, es ist mehr als das. Ich weiß gar nicht, ob man das Phänomen von unserer Bewertung hier so leicht trennen kann. Die Phänomene werden ja als etwas aufgefasst und interpretiert und wirken auch auf dieser Ebene. Das Einmarschieren und Bemächtigen, die Gewalt und die Gegenwehr sind nicht einfach nur Fakten, sondern sie vollziehen sich innerhalb je spezifischer normativer, symbolischer und rechtlicher Ordnungen. Da steht jedes Mal eine andere Art von sozialer Ordnung auf dem Spiel und das wirkt auch zurück auf das, was geschieht. Damit will ich keineswegs sagen, dass es nicht auch, ganz basal, um Menschen geht, deren pures Leben bedroht wird. Aber durch die historischen und sozialen Kontexte wird das Grauen selbst zu qualitativ verschiedenen Formen des Grauens. Leben ist, wie Hannah Arendt sagt, nie nacktes Überleben. Und für die Analyse und das Verstehen der Kriege ist es wichtig, sie in ihren spezifischen Kontexten und als Resultat von konkreten historischen und sozialen Entwicklungen zu betrachten. Auch in diesem Sinne muss man sagen, es ist nicht einfach das Immergleiche, sondern die jeweiligen Ereignisse und Handlungen, die zu diesem in mancher Hinsicht ähnlichen Resultat führen, haben in einer sich historisch verändernden Situation eine verändernde Bedeutung. Die derzeitige Regression hinter die ohnehin brüchigen, nur halbherzig durchgesetzten und stets interessengeleiteten Versuche der Etablierung einer Weltordnung, in der nicht länger das Recht des Stärkeren gilt, erweist sich dabei nicht als die Abwesenheit einer normativen Weltordnung, sondern im Gegenteil als eine Reaktion auf diese. Diese Perspektive verändert die Art und Weise, in der wir die Lage analysieren.
Warum ist es ihrer Meinung nach wichtig, ein Konzept des Fortschritts zu formulieren?
Weil wir Kriterien brauchen, um zwischen progressiven und regressiven Tendenzen, Bewegungen und Entwicklungen unterscheiden zu können. Man macht häufig die Unterscheidung zwischen Fortschritt als Fakt und Fortschritt als Ideal. Besonders Vertreter*innen der Philosophie Kants sagen, dass man am Fortschritt als Ideal – sozusagen als Leitstern unseres Handelns – festhalten sollte, auch wenn die Welt sich faktisch nicht in Richtung Fortschritt entwickelt. Oft wird dann auch von „Hoffnung“ gesprochen. Ich persönlich kann sowohl mit dem Begriff der Hoffnung als auch mit der Unterscheidung zwischen Fakt und Fortschritt nicht viel anfangen. Fortschritt ist weder Fakt noch Ideal. Es ist ein Kriterium, mit dem man die wirkliche gesellschaftliche und historische Entwicklung gleichzeitig analysieren, verstehen und bewerten kann. Der Begriff hilft, die Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, gerade nicht so abstrakt zu verstehen. Fortschritt ist keine reine Forderung des Sollens, denn es macht keinen Sinn von Fortschritt zu reden, wenn man nicht irgendeine Art von Potenzial für eine Veränderung in der Wirklichkeit identifizieren kann. Fortschritt – verstanden als Wandel zum Besseren – ist ein Begriff, der nicht nur ein abstraktes Ideal, eine abstrakte Norm bezeichnet, sondern einen historischen Prozess.
In dem Sinne also, wie Marx vom Kommunismus behauptet hat, dass er die „wirkliche Bewegung“ ist?
So ist es. Wobei das nicht meint, dass er einfach so vorhanden ist. Vielmehr drückt der Begriff aus, dass ein Potential und in mancher Hinsicht auch eine Forderung in der Wirklichkeit angelegt ist, die es aber erst noch zu verwirklichen gilt. Umgekehrt taxiert man damit den Preis der Regression, der mit der Nichtverfolgung dieser Möglichkeiten einhergeht. Ich glaube, diese geschichtsphilosophisch aufgeladene, in mancher Hinsicht an Hegel angelehnte Vorstellung von Fortschritt macht den eigentlichen Surplus des Fortschrittsbegriff für unser normativ-analytisches Vokabular aus. Wenn der Fortschrittbegriff einen anderen Sinn haben soll als unsere anderen normativen Begriffe, wenn also die Aussage, dass die Abschaffung der Sklaverei ein Fortschritt ist, mehr bedeuten soll, als dass sie gut oder richtig ist oder die Behauptung, dass wir im Zeitalter einer Regression leben, mehr sagen soll, als dass die Gegenwart schlecht und unheilvoll ist, dann muss er historische Möglichkeiten in der Wirklichkeit beinhalten. Diese können unentwickelt bleiben, verkannt werden oder sich regressiv entwickeln. Von wirklichen Potenzialen zu reden, meint also keineswegs, dass alles gut ist oder dass in Zukunft alles gut werden wird, und erst recht nicht, dass es sich bei den vielfachen Gräueltaten um bloße Umwege einer zum Glück führenden Weltgeschichte handelt. Die Potenziale sind negativistischer zu verstehen. „Wirklich“ sind hier vor allem die Krisen, Probleme und Widersprüche, wie sie im existierenden Lauf der Geschichte erscheinen. Fortschritt wäre eine Weise, diese Krisen nichtregressiv zu lösen. Fortschritt ist dann so etwas wie ein Wandel im Wandel.
Was meinen Sie mit Wandel im Wandel?
Damit meine ich, dass soziale Veränderungen oder soziale Transformationsprozesse aus einer Vielfalt von Veränderungsdynamiken bestehen, die aufeinander einwirken. Gesellschaftlicher, sozialer, moralischer oder politischer Fortschritt ist immer Teil von solchen übergreifenden Wandlungsprozessen. Er entsteht im Kontext solcher Prozesse oder gibt diesen eine bestimmte Richtung. Im 19. Jahrhundert kommen ganz verschiedene Dynamiken des Fortschritts, wie etwa der wissenschaftlich-technische Fortschritt, sozialer, moralischer und politischer Fortschritt, zusammen. Die unwiderstehliche Kraft, wie Koselleck es beschreibt, die man dem Fortschritt auf dem Höhepunkt der Fortschrittseuphorie zugesprochen hat, hat sich gespeist aus der historischen Erfahrung umfassender Veränderung. Die gesamten Lebensbedingungen der Menschen waren in einem Wandlungsprozess. Und die geweckte Erwartung war, dass sich damit auf allen Ebenen eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen einstellt. Also nicht nur auf technischer und wissenschaftlicher Ebene wachsender Naturbeherrschung, sondern auch in Bezug auf die bessere und gerechtere Organisation des sozialen Lebens und der Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen. Es drückt die Vorstellung aus, dass sich die einzelnen Fortschrittsbewegungen verbinden. Man kann das noch im kommunistischen Manifest von Marx unglaublich ausdrucksvoll und fast in Reinform lesen. Das ist deshalb interessant, weil Marx andererseits gerade nicht ein naiver Aufklärer war und sich auch keine Illusionen darüber gemacht hat, wie stark die Widerstände hier sein werden und welcher machtvollen sozialen Bewegungen und Revolutionen es bedarf, um eine solche Veränderung herbeizuführen. Aber die Vorstellung, dass sich hier die ganze Welt pulverisiert, „alles Ständische und Stehende verdampft“ und dass man innerhalb dieser Dynamik den Einsatzpunkt suchen muss (und finden wird) für die richtige Art von sozialer Revolution, das hat mit dem fortschrittseuphorischen Zeitgeist und der Vorstellung der Verflechtung der unterschiedlichen Wandlungsprozesse einiges gemein.
Was sagt uns dieser Gedanke heute noch?
Heutzutage ist dieser Gedanke zerborsten. Was wir an Veränderung erleben und erwarten, wird mindestens ambivalent beurteilt. Und wenn heute in der Philosophie über Fortschritt nachgedacht wird, dann meistens nur über moralischen Fortschritt. Da werden die Wandlungsprozesse separiert und gar nicht mehr aufeinander bezogen. Aus der Ablehnung eines unplausiblen Determinismus, der den moralischen Fortschritten gar kein eigenes Recht zugesteht, ist die umgekehrte Position geworden, die die Verbindung von materiellen und nicht-materiellen, normativen sozialen Dynamiken gar nicht mehr in den Blick nimmt. Genau diese Verschränkung aber ist eigentlich interessant. Und damit der Umstand, dass moralischer Fortschritt nicht alleine steht, sondern in soziale Kontexte und deren Veränderung eingebettet ist. Weder das Bestehen von Praktiken und Institutionen wie der Sklaverei oder die rechtliche Akzeptanz von Vergewaltigung in der Ehe noch ihre (zumindest legale) Abschaffung lassen sich aber ohne solche Kontexte und die Wechselwirkung zwischen ihnen verstehen.
Wie genau ist dieses Verhältnis zwischen den verschiedenen Wandlungsprozessen zu verstehen?
Jeder dieser Prozesse hat eine eigene Logik und ein eigenes Recht, steht aber gleichzeitig auch in vielfältigen und wechselseitigen Bedingungsverhältnissen. Meine Formulierung „Wandel im Wandel“ und die Vorstellung, dass Wandel durch Krisen und Mismatches zwischen Praxisgefügen ausgelöst wird, ist eine sehr vorsichtige (Wieder-)Annäherung an solche Zusammenhänge, die man dann weiter verstehen und ausbuchstabieren muss. Das lässt sich an der Serie Downton Abbey gut sehen. Hier zeigt sich, wie das Zusammenspiel von technischem Fortschritt, adliger Misswirtschaft, dem Auftreten von Emanzipationsbewegungen sowie des Kriegs eine Art Sog erzeugen, in dem sich die verschiedenen eingelebten Praktiken und Institutionen nicht mehr halten können. Die einzelnen Dynamiken wirken dabei unabhängig und stehen doch in einem Interdependenzverhältnis zueinander. In einem eher unübersichtlichen Gemisch ermöglicht, bewirkt und erfordert das eine das andere. Sozialphilosophisch ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, wie verschiedene Dynamiken des Wandels zusammenwirken. Zur Befreiung der Frau beispielsweise haben die Erfindung der Pille oder der Schreibmaschine genauso viel beigetragen wie die Akteure und Akteurinnen, die dann die Emanzipationsbestrebungen formuliert haben. Die Schreibmaschine ist ein klassisches Beispiel, weil es für eine Entwicklung in den 20er Jahren steht, in der Frauen eine akzeptierte Berufstätigkeit außerhalb von häuslichen Dienstverhältnissen und der Fabrik aufnehmen konnten. Für unverheiratete Frauen bestand damit die Möglichkeit einen unabhängigen Job zu haben und sich selbst zu versorgen. Das hat eine ganze Kultur der Emanzipation erzeugt – auch hier sei auf Downton Abbey verwiesen, wo das Dienstmädchen heimlich einen Schreibmaschinenkurs macht. Bei der Untersuchung von sozialem Fortschritt ist es wichtig, sich solche Arten von materialistischen Verschränkungen, die auf den ersten Blick weder etwas miteinander zu tun zu haben scheinen noch in irgendeiner Weise so intendiert sind – die Erfinder der Schreibmaschine oder der Pille hatte ja nicht die Emanzipation der Frau im Sinn –, bewusstzumachen. Erst so werden wir die, wie Marx sagt, aktive und passive Dimension von sozialen Revolutionen – also dass es Vorbedingungen, Brüche sowie soziale Strukturen gibt, die sich verändern und die an bestimmten Punkten Möglichkeiten erzeugen, die wiederum von sozialen Akteuren ergriffen werden müssen – verstehen.
Woran misst man gesellschaftlichen Fortschritt?
Das ist nicht so leicht. Während ich beim wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt beispielsweise sagen kann, dass eine Waschmaschine schneller und effektiver wäscht als das Waschen per Hand, ist hinsichtlich des gesellschaftlichen Fortschritts schon die Frage, was hier als schnelleres Wäschewaschen gilt, umstritten. Der Pluralismus der Vorstellungen darüber, wie das menschliche Zusammenleben eigentlich sein sollte, macht es schwer, einen solchen Maßstab verbindlich zu machen.
Gibt es da eine allgemeine Norm, an der man sich orientieren kann?
Es ließe sich argumentieren, dass beispielsweise niemand offen für Unfreiheit eintritt, sondern dass es lediglich unterschiedliche Auffassungen gibt, was Freiheit bedeutet und für wen diese faktisch gelten soll. Trotz der Uneinigkeit hätte man demnach einen hermeneutischen Bezugspunkt. Aber wenn die Interpretationen so unterschiedlich sind, dass sowohl Putin als auch Martin Luther King gleichzeitig von Freiheit reden können, dann verliert das Konzept seine Griffigkeit. Meine Vorstellung ist deshalb eine andere: In technischen Dingen ist klar, was Fortschritt bedeutet. Das liegt daran, dass es instrumentelle Verhältnisse sind. Fortschritt in diesem Sinne wäre, wenn die Mittel, mit denen man ein vorher gesetztes Ziel erreichen möchte, besser und effektiver werden. Menschliche Gesellschaften sind in einem solchen instrumentellen Framework gar nicht richtig beschrieben. Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme. Fortschritt ist ein krisengesteuerter Problemlösungsprozess. Ich denke also weder, dass es ein bekanntes Ziel gibt, auf das die Geschichte hinstrebt, noch dass die Geschichte so etwas wie eine ursprüngliche Bestimmung impliziert, die sich im Laufe der Zeit wie eine Blüte entfaltet – beides Vorstellungen, die man Hegel häufig unterstellt. Was wir brauchen, um einen Maßstab für fortschrittliche Entwicklungen im Gegensatz zu regressiven Entwicklungen etablieren zu können, sind Kriterien, die die Dynamik dieser Entwicklungen selber beurteilen. Fortschritt ist dann wesentlich ein Kriterium und Charakteristikum dieser Dynamik und nicht eine Substanz, die irgendwo als Maßstab beschreibbar wäre.
Heißt das, man kann Fortschritt immer nur ex post erkennen?
Ja, vielleicht ist das so. Fortschritt wäre dann nicht nur ein offener und unabschließbarer Prozess, sondern wir können auch nur retrospektiv erkennen, ob es sich bei einer bestimmten Entwicklung um einen Fortschritt gehandelt hat. Ex post ist dann aber nicht so zu verstehen, dass man erst in 100 Jahren sehen kann, ob MeToo eine fortschrittliche Bewegung erzeugt hat oder nicht. Ex post ist immer auch jetzt bzw. sehr bald, nämlich der permanente Reflexionsprozess auf die Dynamik, die wir Fortschritt nennen. Es gibt immer mehrere Auswegmöglichkeiten aus dem, was man als eine widersprüchliche und krisenhafte Verfassung auffassen kann. Und in gewisser Weise gibt es dabei immer so etwas wie einen kleinen Sprung im Moment des Neuschaffens. Im Sinne Hannah Arendts tut man etwas, das sich aus der gegebenen Situation nicht zwangsläufig ergibt. Zugleich ist aber Fortschritt nicht einfach das Schaffen von Neuem, sondern das Neuschaffen, das von einer Problem- und Erfahrungsgeschichte erfordert ist. Das meine ich, wenn ich von Anreicherung spreche. Aufgrund dieser Unvorhersehbarkeit der Folgen von den eigenen Taten kann man erst im Nachhinein sehen, ob die Handlungen ein Fortschritt gewesen sein werden oder nicht. Das ist das Experimentelle daran.
In dem von Ihnen schon erwähnten Buch Die Dialektik der Aufklärung arbeiten Adorno und Horkheimer heraus, wie seitjeher Fortschritt immer auch mit einem Rückschritt einher ging. Wenn aber jeder vermeintliche Fortschritt notwendig mit einem Rückschritt verbunden ist, wird dann das Konzept des Fortschritts nicht obsolet bzw. als eine Ideologie entlarvt?
Die Argumentation lautet aber ja gerade nicht, dass Fortschritt notwendigerweise mit Rückschritten, Aufklärung mit Gegenaufklärung verbunden ist, so nach Art von: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Die Dialektik der Aufklärung ist eine Dialektik, insofern sich die Möglichkeit der Regression als eine von der Aufklärung selbst hervorgebrachte Tendenz darstellt. Das Buch ist eine Reflektion auf eben diese Tendenz und auf deren systematische, in einer Verengung der Aufklärung selbst angelegte Ursachen. In der Einleitung der Dialektik der Aufklärung sagen Adorno und Horkheimer, man solle das Destruktive der Aufklärung nicht ihren Feinden überlassen. In diesem Sinne neige ich zu einer Lektüre des Buches als einer radikalen Selbstkritik der Aufklärung und des bestehenden Fortschrittsdenken. Aber eben einer Selbstkritik. Und nicht einer verwerfenden Kritik. Dabei verändert sich dann allerdings auch das Verständnis von dem, was Aufklärung, Emanzipation, Autonomie sein könnten. Letztlich vertreten Adorno und Horkheimer die radikale These, dass wir noch nie wirklich Fortschritt gehabt haben. Wir befinden uns nicht auf einem unerschrockenen Weg hin zur Sonne oder Freiheit. Regression bedroht, so schreibt Adorno sinngemäß, nicht das bereits Erreichte, sondern die Möglichkeit einer ganz anderen Welt.
Postkoloniale Theoretiker wie Dipesh Chakrabarty kritisieren das Konzept des Fortschritts. Sie sehen darin ein Instrument westlicher Herrschaft, was nicht nur in der Vergangenheit, sondern bis in die Gegenwart dazu benutzt wird, um hegemoniale Machtansprüche sowie ausbeuterische und unterdrückende Praktiken zu legitimieren. Wie stehen Sie zu solchen Positionen? Lässt sich ein Fortschrittskonzept denken, das sich mit diesen Positionen versöhnen lässt?
Chakrabarty sagt in seiner sehr richtigen und eindrucksvollen Metapher, dass das mit einer Idee von Entwicklung arbeitende Fortschrittsdenken zu der Vorstellung führe, dass ein Teil der Menschheit immer im Wartesaal der Geschichte sitzt. Es gibt sozusagen Leitmedien des Fortschritts, die die Welt in Fortgeschrittene und Zurückgebliebene trennen: auf der einen Seite sind die Gesellschaften, die den Fortschritt verkörpern, sprich westlich liberale, vermeintlich moderne Gesellschaften, und auf der anderen Seite stehen alle restlichen Gesellschaften. Diese sind noch nicht da angelangt, wo die anderen schon sind, aber dazu bestimmt, genau dieselbe Entwicklung durchzumachen. Sie sind also gewissermaßen „noch nicht so weit“ und insofern sitzen sie, bis sie so weit sind, im Wartesaal der Geschichte. Die Konsequenz einer solchen Vorstellung von Weltgeschichte ist, dass die im Wartesaal Verbliebenen als unreife und unterentwickelte Gesellschaften verstanden werden, die auf paternalistische Weise zu ihrem vermeintlichen Glück geführt werden müssen – Stichwort Entwicklungshilfe. Das Ziel all dieser Gesellschaften muss demnach darin liegen, genau dieselben Entwicklungsprozesse, die die westlich-modernen Gesellschaften vollzogen haben, nachzuholen und ihre Lebensformen zu übernehmen. Das ist der Vorwurf von Chakrabarty. Dieses Bild mit dem Wartesaal ist treffend und nicht umsonst so wirkmächtig geworden. Die Frage ist aber, ob man Fortschritt wirklich so denken muss und selbst ob eine Entwicklungsidee immer diese Konsequenzen haben muss. Ich versuche, das anders zu denken. Trotz einer grundsätzlichen Sympathie für die Wartesaalmetapher und ihre kritische Stoßrichtung erscheint mir das damit oft verbundene Bashing von allem, was mit Lern- und Entwicklungsprozessen zu tun hat, nicht produktiv. Dass es nicht den einen und für alle gültigen weltgeschichtlichen Entwicklungsprozess gibt, bedeutet nicht, dass es keine Entwicklung gibt, dass also die Analyse von Gesellschaften ganz ohne eine Analyse von Prozessen sozialen Wandels auskäme, die sich in mancher Hinsicht als Entwicklung – ich würde sagen: als Problemlösungsprozess oder als Erfahrungsprozess – beschreiben lassen.
Wie sollten wir Entwicklungsprozesse verstehen?
Man sollte von einer Pluralität solcher Prozesse, von multiplen Pfaden der Entwicklung ausgehen. Diese sind dann wiederum sowohl ganz unabhängig voneinander als auch in der Weise, wie sie miteinander verwickelt sind, zu betrachten. Ich glaube, dass wir Analysekriterien brauchen, mit denen wir uns historische und soziale Veränderungen, also die Erosionen und Transformationen von Institutionen, Praktiken und Lebensformen verständlich machen, aber auch bewerten können. Gesellschaftliche Veränderungen und sozialer Wandel lassen sich nicht gut verstehen, wenn man sie im Modus unverbundener Ereignisse auffasst. Auch das Motiv der „Kontingenz“ wird oft etwas überstrapaziert und ist dem Verstehen eher hinderlich. Dafür braucht man statt einer strikten Logik eine deflationär angelegte Vorstellung des Weltgeschehens. Man muss verstehen, dass die Erosion einer bestimmten Institution unmittelbar mit der Möglichkeit ihrer Transformation zu tun hat, ohne dass man den Weltlauf deterministisch deutet. Meine Vorstellung von Fortschritt unterliegt in diesem Sinne nicht dem Wartesaalvorwurf, weil ich nicht von einer einheitlichen Entwicklung der Weltgeschichte ausgehe, die für jeden an jeder Stelle gelten muss. Vielmehr gehe ich von der Pfadabhängigkeit solcher Erfahrungsprozesse aus. Wenn ich sage, dass diese problemlösungs- und krisengetrieben sind, bedeutet das, dass es historisch betrachtet, nicht nur sehr unterschiedliche Ausgangspositionen gibt, sondern auch nicht nur einen, sondern viele verschiedene Lösungspfade zur Auswahl stehen.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass Entwicklungs- bzw. Transformationsdynamiken von Gesellschaften komplett unterschiedlich verlaufen können und eben gerade nicht einem einheitlichen, vorbestimmten Weg zu einem konkreten Ziel gehen müssen. Andererseits gibt es Interdependenzen, Abhängigkeiten und Einflüsse zwischen den verschiedenen „Pfaden“. Mit den beschriebenen Interdependenzverhältnissen zwischen den unterschiedlichen Wandlungsprozessen verbindet sich die Vorstellung, dass es nirgendwo Inseln der Transformation gibt, die nicht irgendwie mit anderen Systemen in Verbindung stehen. Angesichts einer faktischen Globalisierung, die wesentlich von den westlichen Systemen dominiert und vorangetrieben wird, sind notwendigerweise alle nicht westlichen Entwicklungen mit dieser verbunden. Die Untersuchungen der sogenannten Global History machen dies deutlich. Im Gegensatz zu einer singulären Weltgeschichte, die das Weltgeschehen als eine einheitliche Dynamik konstituiert, legt sie die Vielfalt der verschiedenen Dynamiken aus einer globalen Perspektive offen und macht das Faktum der Verflechtung deutlich. Ich würde sagen, dass solche Theoreme wie Fortschritt aber auch Aufklärung oder Moderne zu schnell und vielleicht sogar leichtfertig über Bord geworfen werden.
Warum wurden diese Begriffe über Bord geworfen?
Das funktioniert häufig im Modus der Kontaktschuld. Weil im Namen des Fortschritts, der Emanzipation sowie der Aufklärung eine Unmenge nicht nur historischer Gräueltaten und Ungerechtigkeiten vollzogen worden sind, sondern auch ein imperialistisches Entwicklungsmodell mit ungeheuren Opfern etabliert wurde, wurden diese Konzepte bei deren Aufarbeitung quasi als Komplizen mit beseitigt. Diese Reaktion halte ich für falsch. Ein weiterer oft formulierter Einwand ist, dass schon die Konzepte von Prozess, Dynamik oder Entwicklung westlich geprägte Vorstellungen seien und deswegen nicht als Analysewerkzeug zur Beschreibung nicht westlicher Gemeinschaften fungieren könnten. Das halte ich selber für ein kolonialistisches Vorurteil. Der Gedanke, die anderen Gesellschaften seien gewissermaßen „kalte“ Gesellschaften, wo sich nichts tut und die nur in sich ruhen, ist eine koloniale Projektion auf die Glückseligkeit bestimmter traditioneller Modelle und Gesellschaften, von der ich nicht glaube, dass sie stimmt.
Die Kritik muss dann von den Leuten selber kommen?
Ja, natürlich! Wenn Kritik immer auch die andere Seite der Krise ist, dann entsteht sie ja gewissermaßen gleichzeitig von innen wie von außen heraus. Und das wirkliche Problem ist, dass eben solche Entwicklungen oft blockiert werden.
Wie geht man damit um, wenn unterschiedliche Kulturen in Streit geraten und die eine Partei die andere als minder entwickelt ansieht, weil sie gewisse kulturelle Praktiken als nicht gut erachtet?
Das ist Fortschritts- und Entwicklungsimperialismus. Genau das, was Chakrabartys Wartesaalmetapher kritisiert. Und genau das übrigens auch, was gerade im globalen Maßstab scheitert und zu immer schlimmeren Verwerfungen führt. Schon die Art, wie die Fragen gestellt und die Konfrontationen aufgebaut werden, ist manchmal absurd. Eine solche Kritik ist immer Selbstkritik. Viele der sogenannten interkulturellen Konflikte sollte man überhaupt nicht als solche behandeln, sondern sollte sie stattdessen immer in den Zusammenhang von Herrschafts- und Ausgrenzungsdynamiken sowie den wechselseitigen Reaktionen aufeinander betrachten. Man sieht das beispielsweise an Diskussionen wie die über das Kopftuch. Also ob es problematisch ist oder nicht, wenn 10-jährige Mädchen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, weil sie Kopftücher tragen – so werden diese Konflikte ja gerne beschrieben. Solche Fragen lassen sich überhaupt nur auf dem Hintergrund bestehender Exklusionsprozesse und Machtverhältnisse beantworten. Hier liegt die Lösung darin, das durch Herrschaft bestimmte Gefüge, in dem sich dieser Konflikt bewegt, zu lösen und damit Emanzipationsprozesse überhaupt erst zu ermöglichen. •
Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet seit 2018 das dortige Center for Humanities and Social Change. Sie veröffentlichte u.a. „Kritik von Lebensformen“ (Suhrkamp, 2013) und „Kapitalismus – Ein Gespräch über kritische Theorie“ - zus. mit Nancy Fraser (Suhrkamp 2020) .
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