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Dossier

Kaum zu glauben! - Vier Skeptiker

Yves Bossart veröffentlicht am 15 min

Skeptiker sind Querdenker. Mit einfallsreichen, bisweilen surreal anmutenden Gedankenexperimenten stellen sie die Grundlagen unseres Weltbildes infrage. Sie erweisen sich damit bis heute als die eigentlichen Motoren der Philosophiegeschichte. Ein Überblick der einflussreichsten Zweifels-Fälle. Und ihrer Entgegnungen.

 

I Pyrrhons Trilemma: Keine Meinung ist gerechtfertigt

Angenommen, Sie haben ein vierjähriges Kind, das rund um die Uhr „Warum?“ fragt. „Du musst jetzt die Schuhe anziehen!“ – „Warum?“ „Weil wir nach draußen gehen.“ – „Warum?“ „Wir müssen noch einkaufen.“ – „Warum?“ „Der Kühlschrank ist leer.“ – „Warum?“ … Egal, was Sie als Grund angeben, das Kind kann immer weiterfragen. Die Kette der Gründe nimmt kein Ende.

Ihnen bleiben aus logischer Sicht exakt drei Optionen: Entweder Sie geben für jeden Grund einen weiteren Grund an – dann müssten Sie sich unendlich lange mit dem Kind unterhalten, jedenfalls werden Sie nicht vor Ladenschluss zum Einkaufen kommen. Oder Sie brechen irgendwo ab und sagen dem Kind „Das ist einfach so! Da gibt es nichts zu begründen.“ Oder, als dritte Option, Sie geben eine zirkuläre Begründung, etwa indem Sie dem Kind sagen: „Wir müssen einkaufen gehen, weil du Hunger hast.“ – „Und Hunger hast du, weil der Kühlschrank leer ist und wir noch einkaufen müssen.“ Alle drei möglichen Optionen sind damit unbefriedigend: Die Begründungskette nimmt kein Ende; der dogmatische Abbruch ist willkürlich und der Zirkelschluss ist ungültig. Sie stecken in einem sogenannten Trilemma und können Ihrem Kind gegenüber nicht begründen, warum es seine Schuhe anziehen soll. Dieses Problem stellt sich nicht nur bei Schuhen, sondern bei jedweder Begründung. Jede unserer Überzeugungen steht in skeptischem Verdacht, grundlos zu sein. Meist spüren wir das erst, wenn wir uns mit Andersdenkenden unterhalten, die unsere stillschweigenden Voraussetzungen nicht teilen.

Was also tun? So lautet auch die Frage der sogenannten Pyrrhoniker – einer skeptischen Schule der Antike. Und deren Antwort ist ganz einfach: loslassen und entspannen! Tatsächlich gilt die pyrrhonische Skepsis in der Philosophiegeschichte als radikalste Form des Zweifelns. Die Grundgedanken der Pyrrhoniker hat der Arzt und Philosoph Sextus Empiricus in dem lesenswerten Werk „Grundriss der pyrrhonischen Skepsis“ im zweiten Jahrhundert dargelegt: Pyrrhoniker glauben, wir könnten lediglich beurteilen, wie uns die Dinge erscheinen, niemals aber, wie sie wirklich sind. Ihnen schien es zudem so, dass bei jeder Meinung jeweils gleich gute Gründe dafür wie dagegen sprechen. Pro und Contra halten sich die Waage, egal, worum es geht: Ist das Weltall endlich oder unendlich? Gibt es Gott oder nicht? Atomkraft ja oder nein? Demokratie schützen oder abschaffen? Besser der Vernunft oder dem Gefühl vertrauen? In all diesen Fragen ließe sich keine gut begründete Entscheidung treffen, meinen die Pyrrhoniker. Es spreche jeweils ebenso viel für die eine wie für die andere Seite. Dieses Gleichgewicht widerstreitender Ansichten nannten sie „Isosthenie“.

Wer erst einmal eingesehen habe, dass sich Pro und Contra in jeder Frage die Waage halten, der werde sich in seinen Urteilen zurückhalten. Diese Urteilsenthaltung bezeichneten sie als „Epoché“. Aus ihr folge die Seelenruhe, die „Ataraxie“. Wer sich nämlich von allen festen Meinungen befreie, der lege auch alle Sorgen, alle Empörung und allen Eifer beiseite. Skepsis war für die Pyrrhoniker eine Lebenskunst – ein Weg zum Glück.

Eines der wichtigsten skeptischen Argumente der Pyrrhoniker war das Begründungstrilemma. Es soll zeigen, dass jeder Begründungsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Irgendwo müsse man nämlich die Begründungskette abbrechen, ohne Grund. Damit steht das ganze Haus unserer Überzeugungen auf Sand und kann jederzeit in sich zusammenfallen. Durchaus nicht alle Zeitgenossen sahen darin einen Grund zur Tiefenentspannung.

Der aristotelische Konter: Axiome sichern alles!

Aristoteles, Schüler von Platon und im Mittelalter „der Philosoph“ genannt, war anderer Meinung und behauptete, es gäbe sogenannte Axiome: Sätze, die zwar nicht bewiesen werden können, die aber auch keines Beweises bedürfen. Solche Axiome leuchten unmittelbar ein und können nicht sinnvoll bezweifelt werden. Sein prominentes Beispiel ist der „Satz vom Widerspruch“: „Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Hinsicht zukommt und nicht zukommt“, wie Aristoteles schreibt. Es kann unmöglich etwas der Fall sein und gleichzeitig nicht der Fall sein. So kann meine Frau nicht zugleich schwanger und nicht schwanger sein. Wer den Satz vom Widerspruch bestreiten möchte, verwickelt sich in Widersprüche, denn er würde zugleich eine Aussage und ihr Gegenteil behaupten. Entweder also man akzeptiert den Satz vom Widerspruch oder man schweigt, so Aristoteles, „wie eine Pflanze“. Der Skeptiker verwickelt sich also in einen sogenannten „performativen Widerspruch“, da er etwas bezweifeln möchte, das er braucht, um den Zweifel überhaupt formulieren zu können. Wer beim Sprachspiel des Nehmens und Gebens von Gründen mitspielen möchte, muss bestimmte Regeln akzeptieren. Bleibt nur zu klären, ob es neben diesen logischen Axiomen weitere Meinungen gibt, für die wir gute Gründe haben oder die wir gar mit Gewissheit vertreten können. Die Frage ist letztlich: Was sind gute Gründe? Worauf dürfen wir unsere Meinungen stützen?

 

 

II Descartes' Dämon: Im Bann des Allmächtigen

Stellen wir uns einen bösen, allmächtigen Dämon vor, der jede Art von Wahrnehmungen und Gedanken in uns hervorrufen und uns so eine täuschend echte Welt vorgaukeln kann. Auch bei den einfachsten Dingen könnte uns dieser böse Geist hinters Licht führen. So könnte er uns etwa dazu bringen zu glauben, eins plus eins ergibt drei. Wir würden den Fehler nicht bemerken. So ähnlich, wie in einem sehr realistischen Traum. Nur eben für immer. Ohne die geringste Chance, jemals daraus aufzuwachen: dem Bann des Dämons zu entkommen.

Genau dieses Gedankenexperiment ersann im 17. Jahrhundert der französische Philosoph René Descartes in seinen „Meditationen“. Descartes hat mit diesem Experiment den philosophischen Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt radikalisiert. Sein eigentliches Ziel war jedoch nicht die Vertiefung dieser Skepsis, im Gegenteil: Er wollte die Wissenschaft auf ein festes und unbezweifelbares Fundament stellen. Zu diesem Zweck versuchte er an allem zu zweifeln, woran man überhaupt zweifeln kann: selbst an der Existenz der Außenwelt, die ihm doch eigentlich klar vor Augen stand.

Descartes fragte sich deshalb: Gibt es etwas, worin uns dieser böse Geist unmöglich täuschen kann? Gibt es etwas, woran wir nicht zweifeln können? Descartes meint, ja, es gäbe eine unbezweifelbare Gewissheit, nämlich die Tatsache, dass ich jetzt gerade denke. Auch wenn ich in allem, was ich denke, getäuscht werde, gilt dennoch: Ich denke. Ich erlebe und denke etwas, auch wenn meine Erlebnisse trügerisch und meine Gedanken falsch sind. Es geht etwas in mir vor, ich zweifle. Das weiß ich mit absoluter, unbezweifelbarer Gewissheit. Wenn dies der Fall ist, dann aber muss es auch mich geben. Denn: Kein Gedanke ohne Denker. „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“, schließt Descartes deshalb. Ihm zufolge ist unser bewusstes Erleben das unbezweifelbare Fundament jedweder Erkenntnis – und der Beweis für meine Existenz.

Wie aber kann ich beweisen, dass es nicht nur mein Denken und Erleben gibt, sondern auch eine Welt außerhalb meines Geistes? Um die Zweifel an der Existenz einer Außenwelt auszuräumen, greift Descartes auf Gott zurück. Denn wenn es einen allmächtigen und gütigen Gott gibt, würde er wohl kaum zulassen, dass wir uns radikal über die Welt täuschen. Also liefert Descartes in seinen „Meditationen“ gleich zwei Gottesbeweise und versucht so, die Lücke zwischen subjektivem Erleben und objektiver Welt zu schließen. Doch er scheitert: Die Beweise sind fehlerhaft. Selbst wenn sie gültig wären, bliebe fraglich, ob Descartes damit nicht einen Zirkelschluss vollzieht, denn er beweist Gott mithilfe des logischen Denkens. Und Gottes Existenz soll zeigen, dass wir uns im logischen Denken nicht täuschen können. Ein Fehlschluss also, der fast eines Dämons würdig wäre.

Putnams Konter: Gewissheit ohne Gott

Der amerikanische Philosoph Hilary Putnam hat Descartes’ Gedankenexperiment des täuschenden Dämons in unsere Zeit übersetzt. Da die heutige Wissenschaft davon ausgeht, dass unser bewusstes Erleben durch Vorgänge im Gehirn erzeugt wird, müsste es prinzipiell möglich sein, bestimmte Erlebnisse durch gezielte Stimulationen des Gehirns hervorzurufen. Ja, werden denn letztlich nicht sämtliche Erlebnisse im Gehirn erzeugt?
Erblicken wir eine rote Rose, leitet unser Auge die Information an unser Gehirn weiter, das das Bild einer roten Rose erzeugt. Den Weg vom Auge zum Gehirn kann man sich sparen, sofern man den identischen Gehirnzustand künstlich erzeugen kann. Für diesen Fall sähe die Person, deren Gehirn stimuliert wird, eine rote Rose, obwohl weit und breit keine Rose in Sicht ist. Durch Gehirnstimulation kann man uns also prinzipiell alles Mögliche vorgaukeln! Und, wer weiß, vielleicht wird das ja tatsächlich getan: mit Ihnen. Mit mir. Mit uns allen. Und zwar die ganze Zeit! Vielleicht schwimmen unsere Gehirne derzeit in einer Nährlösung und werden durch zahlreiche Drähte gezielt stimuliert, sodass wir bloß glauben, einen Körper zu haben und gerade diesen Text zu lesen. Können wir ausschließen, dass es so ist, ohne auf göttliche Garantien zurückgreifen zu müssen wie einst Descartes?

Putnam meint: ja. Seine antiskeptische Argumentation stützt sich auf die Position des sogenannten „semantischen Externalismus“. Ihr zufolge können wir nur auf sprachlich Bezug nehmen, mit denen wir auch Kontakt hatten. An einem Beispiel erläutert: Wenn im australischen Busch ein Feuer ausbricht und die Aborigines „waboo“ rufen, dann gehen wir davon aus, dass der Ausdruck waboo Feuer bedeutet, denn das Feuer war Anlass und Ursache des Ausrufs. 

Wenden wir nun diese Einsicht auf das Gehirn im Tank an. Angenommen, die Person, deren Gehirn in Nährlösung schwimmt, glaubt, einen Baum vor sich zu sehen. Gemäß skeptischer Annahme wurde dieser Wahrnehmungseindruck nicht von einem Baum ausgelöst, sondern von dem Supercomputer, mit dem das Gehirn in seiner Nährlösung über Drähte verbunden ist. Ist das Gehirn von Beginn an an diesen Computer angeschlossen, hatte es also nie Wahrnehmungskontakt mit richtigen Bäumen. Denn all seine Baumwahrnehmungen wurden nicht von Bäumen, sondern dem Computer ausgelöst. Sofern sich das Wort „Baum“ also auf die Ursache von Baumwahrnehmungen bezieht, bezieht sich das Gehirn im Tank damit auf fein gesteuerte Computerimpulse – nicht aber auf wirkliche Bäume, da es noch nie Kontakt hatte mit richtigen Bäumen. Ein Gehirn im Tank kann deshalb, so Putnams Schlussfolgerung, weder über Bäume, Rosen, Fahrräder oder eben Gehirne oder Tanks nachdenken. Es kann damit insbesondere nicht denken, es sei vielleicht bloß ein Gehirn in einem Tank. Das können nur wir, die wir keine bloßen Gehirne im Tank sind.

Sofern der Gedanke, dass ich ein Gehirn im Tank sein könnte, also überhaupt sinnvoll gefasst und gedacht werden kann, muss er falsch sein: Denn entweder bin ich tatsächlich ein Gehirn im Tank (dann kann ich unmöglich denken, ich sei ein Gehirn im Tank), oder ich bin kein Gehirn im Tank. Dann kann ich es zwar denken, liege aber falsch. Putnams Widerlegung steht damit stellvertretend für eine sehr gängige Strategie im Umgang mit skeptischen Argumenten, wie sie im 20. Jahrhundert beispielsweise auch Charles Sanders Peirce, Martin Heidegger oder Ludwig Wittgenstein angewandt haben: Es wird versucht, den formulierten Zweifel zu entkräften, indem man aufzeigt, dass eben die Bedingungen, die der Skeptiker voraussetzen muss, um seinen Zweifel überhaupt sinnvoll formulieren zu können (hier: die wahre Bedeutung der verwendeten Wörter), den Inhalt des Zweifels selbst ad absurdum führen.

 

III Humes Anstoß: Ursachen sind ein Fake

Spielen Sie gern Billard? Oder Boule? Gar Murmeln? Ist im Prinzip auch egal. Wichtig ist nur, dass sie in Ihrem Leben schon einmal beobachtet haben, wie eine Kugel eine andere trifft, ihren eigenen Impuls dabei kausal an die andere weitergibt und diese damit in Bewegung setzt. Klar, das hat jeder von uns schon einmal gesehen. Und zwar nicht nur einmal, sondern Hunderte, wenn nicht Tausende Mal. So wie auch der schottische Philosoph David Hume, seines Zeichens nicht nur ein genialer Denker, sondern auch passionierter Billardspieler. Allerdings gibt es bei Hume einen Unterschied: So bezweifelte er ausdrücklich, dass bei diesem Spiel kausale Kräfte und die Weitergabe von Kraftimpulsen irgendeine entscheidende Rolle spielen – ja, dass es auf dieser Welt überhaupt so etwas wie eine notwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung gibt. Schließlich, argumentiert Hume, hat in Wahrheit noch kein Mensch jemals eine Kraftübertragung von einer Ursache auf ihre Wirkung beobachtet. Sondern lediglich, dass, wenn eine rollende Billardkugel auf eine stillstehende trifft, die eine aufhört und die andere anfängt zu rollen. Das ist alles, was wir beobachten. Eine mutmaßliche, zwischen beiden wirkende kausale Kraft sehen wir nicht – die spintisieren wir in Wahrheit dazu.

Stellen wir uns nur vor, in den Kugeln wären kleine Motoren, und der Motor der stehenden Kugel würde genau dann starten, wenn sie von der rollenden Kugel berührt wird. Und der Motor der rollenden Kugel würde ausgeschaltet, wenn sie auf eine andere Kugel trifft. Das Ganze sähe dann exakt so aus wie ein Aufprall und damit so, als ob hier eine Kraftübertragung stattfindet. In Wirklichkeit aber wird gar keine Kraft übertragen. Kausalität ist nach Hume eine bloße Idee, ohne eigentliche Grundlage in der Wahrnehmung. Diese fixe Idee ist dabei weder angeboren noch von Gott in den Kopf gelegt, vielmehr verdankt sie sich Hume zufolge einer an sich recht unvernünftigen Gewohnheit, die der Mensch mit allen Säugetieren auf dem Planeten teilt: Es ist die animalische Gewohnheit oder auch Neigung, bestimmte Ereignisse, die regelmäßig zeitlich aufeinanderfolgen, als kausal verbunden zu denken. Wir gewöhnen uns an die Reihenfolge und können das erste Ereignis dann kaum noch ohne das zweite denken. Diese psychologische Neigung projizieren wir nun fälschlicherweise auf die Natur selbst und denken, in ihr würden Zwänge und Gesetze herrschen, die den Dingen vorschreiben, was sie tun dürfen und was nicht. Solche ehernen „Naturgesetze“ sind nach Hume jedoch bloße wahrnehmbare Regelmäßigkeiten, an die wir uns gewöhnt haben. 

Die Auswirkungen dieser Kausalskepsis sind denkbar umfassend und existenziell. Denn nach Hume können wir uns damit auch niemals sicher sein, dass zum Beispiel die Sonne morgen wieder aufgehen wird. Schließlich folgt aus der schlichten Tatsache, argumentierte Hume einflussreich, dass sie bisher noch immer aufgegangen ist, keineswegs mit Notwendigkeit, dass sie auch morgen aufgehen wird. Von gestern und heute auf morgen zu schließen, von einem Ereignis auf ein anderes, ist uns als Menschen zwar sozusagen in die Wiege gelegt – mit der wahren Natur der Dinge und ihren Verhaltenstendenzen muss das aber rein gar nichts zu tun haben. Die Moral aus dieser Skepsis ist für Hume klar: Unser gesamtes Weltwissen, sofern es auf kausalen Schlüssen beruht – und damit die gesamte Wissenschaft mit ihren Prognosen! –, hängt erkenntnistheoretisch in der Luft. Diesem Wissen eignet keinerlei Notwendigkeit oder begründbare Gewissheit. Vielmehr ist es, philosophisch gesehen, letztlich völlig ungesichert und kann sich schon im nächsten Moment in all seiner metaphysischen Grundlosigkeit offenbaren. Eine skeptische Einsicht übrigens, die die Frohnatur Hume in ihrer alltäglichen Lebensführung keineswegs beunruhigte oder auch nur beeinträchtige. Allein beim Billard soll sie ihn das eine oder andere Mal von einem besonders gewagten Stoß abgehalten haben.

Kants Konter: Ohne Ursachen keine Wirklichkeit!

Besonders fasziniert von Humes skeptischen Überlegungen zeigte sich der deutsche Philosoph Immanuel Kant. Sie rissen ihn, wie er selbst schreibt, aus seinem „dogmatischen Schlummer“ und stachelten ihn sogleich zu einer umfassenden Widerlegung an. Kant wollte den humeschen Skandal einer Welt ohne letzte Gewissheiten und kausalen Halt ein für alle Mal aus der Welt schaffen und zeigen, dass ein sicheres Wissen über die Welt möglich ist – und zwar ein Wissen, das wir unabhängig von sinnlichen Erfahrungen erlangen können. Er suchte und fand die Lösung des Rätsels in den Grundlagen der Erfahrung, in unserem Geist.

Wann immer wir etwas wahrnehmen, nehmen wir nach Kant nicht einfach sinnliche Eindrücke wie Farben und Geräusche passiv auf, sondern wir formen diese Eindrücke. Wir bringen sie in einen zeitlichen Ablauf und in eine räumliche Ordnung. Zeit und Raum sind nach Kant Anschauungsformen – unsere Art, das Wahrgenommene zu formen und zu strukturieren. Nach Kant formen wir unsere Wahrnehmungseindrücke auch mithilfe von Kategorien, insbesondere der Kategorie der Kausalität: Unser Verstand formt die sinnlichen Eindrücke zu Gegenständen mit Eigenschaften und ordnet sie nach Ursachen und Wirkungen. Was wir als Wirklichkeit der Dinge und Prozesse wahrnehmen, ist also ein Konstrukt unserer Sinne und unseres Denkens. Es ist, als würden wir eine rosa Brille tragen, welche die ganze Welt rosa erscheinen lässt. Wenn wir diese Brille tragen, gilt: Egal, welchen Gegenstand wir betrachten, er wird rosa aussehen. Analog verhält es sich mit den Anschauungsformen und Kategorien: Egal, wohin wir blicken, wir sehen kein Chaos von Sinneseindrücken, sondern räumlich und zeitlich geordnete Gegenstände mit Eigenschaften und Ereignisse, die in Ursache-Wirkungs-Verhältnissen stehen.

Kausalität ist für Kant also keine bloße Illusion, die wir der Welt hinzudichten oder die sich mit der Zeit und Gewohnheit bei uns ausbildet, sondern eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Wenn es etwas gibt, das wir mit Sicherheit wissen, dann, dass alles, was wir erfahren, kausal verknüpft ist. Und was ist mit der Welt da draußen, die unsere Sinne so affiziert, dass der gesamte Formungsapparat unserer Wahrnehmungen überhaupt in Gang kommt? Wie steht es, anders gefragt, um die von unserer Erfahrung unabhängige Wirklichkeit – einmal angenommen, es gäbe sie überhaupt?

An dieser Frage haben sich Kants Nachfolger – allen voran Fichte, Hegel und Schopenhauer – die Zähne ausgebissen. Es ist die Frage nach dem, was Kant das „Ding an sich“ nannte.

 

IV Quines Verwirrung: Im Dschungel der Bedeutung

Stellen Sie sich vor, Sie sind Sprachforscherin und machen eine Reise in den Urwald des Amazonasgebiets. Nach drei Tagen einsamer Wanderung treffen Sie auf einen unerforschten Volksstamm, dessen Sprache Sie verstehen und erforschen möchten. Da Sie die Eingeborenen weder stören noch beeinflussen wollen, installieren Sie sich mit Kamera und Richtmikrofon etwas abseits und lauschen den fremden Äußerungen. Sie hören Laute wie kabauk, teenog saag oder lendron menai – und verstehen Bahnhof.

Dann aber ereignet sich eine interessante Situation: Ein Kaninchen hoppelt vorbei, ein Mann steht auf, zeigt auf das Kaninchen und ruft „gavagai“. Sie zücken Ihr Notizbuch und schreiben: „gavagai = Kaninchen“. Klingt als Übersetzung hochplausibel. Aber könnte der Ausdruck gavagai in dieser Situation nicht auch „Unser Abendessen!“, „Auf zur Jagd!“ oder „Heute gibt’s ein Gewitter“ bedeuten? Woher wissen wir, was andere mit ihren Äußerungen meinen? Ja, wie lernen wir die Bedeutung von Worten überhaupt?

Das oben geschilderte Gedankenexperiment der „radikalen Übersetzung“ stammt von dem amerikanischen Philosophen Willard Van Orman Quine. Er möchte mit dem geschilderten Szenario zeigen, wie rätselhaft der Vorgang sprachlichen Informationsaustausches ist. Vor allem aber, dass es prinzipiell immer mehrere, einander ausschließende Möglichkeiten gibt, die Wörter einer fremden Sprache korrekt zu übersetzen. Wie er darauf kommt? 

Klar ist, dass die Übersetzung „gavagai = Kaninchen“ erst einmal nur eine Hypothese ist. Diese muss sich angesichts des weiteren Sprachgebrauchs der Eingeborenen bewähren. Sollte sich zeigen, dass die Eingeborenen auch bei vorüberkriechenden Schlangen „gavagai“ rufen, wird die Übersetzung fragwürdig. Wird gavagai dagegen wiederholt nur bei Hasen verwendet, fallen einige andere Hypothesen weg, die zuvor noch in Betracht kamen, etwa „gavagai = Abendessen“. Doch kommt man jemals in die Situation, allein aufgrund des empirisch beobachtbaren Verhaltens der Fremdsprachensprecher – und was sollte sonst zur Verfügung stehen? – eine einzige Übersetzungshypothese in aller Bestimmtheit gegen jede andere zu favorisieren? Nach Quine ist dies ausdrücklich nicht der Fall! Woran sich auch dann nichts ändern würde, wenn der Dschungelforscher seinen Beobachtungsposten verlässt und versucht, die Sprache der anderen im aktiven Austausch weiter zu erlernen. Es wird aufgrund der verfügbaren Beobachtungsdaten immer mehr als eine vollkommen plausible Übersetzung jedes Wortes geben. So ist nach Quine zum Beispiel immer vorstellbar, dass eine Forschungsgruppe ein komplettes Wörterbuch „Deutsch – Dschungelsprache“ entwickelt, in dem das Wort gavagai mit „Kaninchen“ übersetzt wird. Das ebenso gute und korrekte Wörterbuch einer anderen Forschungsgruppe würde gavagai hingegen als „nicht abgetrennte Kaninchenteile“ übersetzen, eine dritte Forschergruppe böte, vollkommen korrekt, „potenzielle Keulenmahlzeit“ als Übersetzung an. 

Diese drei Übersetzungsvorschläge sind im Deutschen klarerweise nicht bedeutungsgleich, sind keine Synonyme. Dennoch sind sie alle gleichermaßen korrekt. Mit anderen Worten: Es gibt nach Quine keine Möglichkeit, den Inhalt dessen, was ein Wort oder ein Satz in einer Sprache exakt bedeutet, allein auf der Grundlage der Beobachtung des Sprachverhaltens ihrer Sprecher eindeutig zu bestimmen. Dieses Sprachverhalten ist aber alles, was wir haben. Und zwar nicht nur als Dschungelforscher, sondern auch hier, zu Hause, in der eigenen Muttersprache. 

Quines skeptische Herausforderung betrifft mit anderen Worten jedes sprechende Wesen, denn wir alle wurden einst ohne den geringsten Schimmer davon, was die Äußerungen unserer Mitmenschen bedeuten, in die Welt geworfen. Sprechen gelernt haben wir alle, indem wir das Verhalten anderer Menschen beobachtet und wie ein Dschungelforscher interpretiert haben.

Bedeutet dies nun, dass kein Mensch jemals genau wissen kann, was er oder seine Mitmenschen eigentlich sagen, was unsere oder deren Worte wirklich bedeuten? In gewisser Weise ja. Zumindest argumentiert Quine, dass es immer mehr als eine richtige Weise gibt zu verstehen, was der andere uns gerade sagen will.

Manche Menschen empfinden diese Bedeutungsskepsis als tief verunsichernd. Andere hingegen geradezu als Befreiung.

Alles verstanden? 

Überzeugend widerlegt wurde Quines These von der „Unbestimmtheit der Übersetzung“ bislang nicht. Was entweder dafür spricht, dass er mit ihr eine grundlegende Wahrheit über das Wesen sprachlicher Bedeutungen erfasst hat. Oder aber, dass es in seinen Überlegungen einen prinzipiellen Haken gibt, der bisher noch nicht eindeutig genug bestimmt wurde.

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