Querdenker: Die reaktionäre Multitude?
Nach wie vor protestieren sogenannte „Querdenker“ gegen die Corona-Maßnahmen. Doch um was für eine Art von Bewegung handelt es sich? Ist sie womöglich die reaktionäre Verwirklichung eines einst von links theoretisierten Konzepts?
In einem Meer aus Schildern und Fahnen tanzen Ausgelassene und diskutieren Aufgebrachte. Es ist ein kurioses Aufeinandertreffen, das sich auf der von Spiegel-TV dokumentierten Demonstration beobachten lässt. Ein ehemaliger AfD-Politiker spricht vor der Menge: „Wie in einer guten Armee bleibt jeder an seinem Gefechtsstandort. Dort werden wir weiterkämpfen“, schwört er sie in martialischem Ton ein. Ein anderer Teilnehmer ist empört: Als „großer Mann“ solle er seine soldatische Rhetorik zurücknehmen, es bedürfe vielmehr eines Sprechens im „Wortlaut der Liebe“. Ähnlich klingen zwei weitere Teilnehmer: Mehr Liebe und Nähe statt Distanz! Aber es wird auch ernst: Leise sorgt sich ein bilderbuchgleicher „Dad“ mit Karo-Hemd und Sonnencappy um die Job-Situation seines Sohnes.
Diese Szenen einer „Querdenker“-Demonstration aus dem letzten Sommer stehen exemplarisch für eine gleichermaßen kuriose wie gefährliche Bewegung, die auf den ersten Blick so gar nicht zusammenpassen mag. Von Selbstheilungskräfte beschwörenden Esoterikerinnen und friedliebenden Pazifistinnen über rechtsextreme Antisemiten bis hin zu besorgten Bürgerlichen – alle demonstrieren sie bis heute gemeinsam gegen die Corona-Maßnahmen. Denn auch nach eineinhalb Jahren ist die Pandemie noch immer nicht überwunden. Vielmehr rollt gerade die vierte Welle an, während gleichzeitig die Impfgeschwindigkeit stockt. So gerät der Blick wieder verstärkt auf jene, die sich nicht nur weigern, bei der Pandemiebekämpfung mitzumachen, sondern zunehmend auch Ärzte und Politiker bedrohen.
Wer sind also diese „Querdenker“? Zunächst eine äußerst heterogene Gruppe, so eine Studie des Soziologen Oliver Nachtwey und seiner Kollegen von Ende 2020. Neben ehemaligen Grünenwählerinnen finden sich AfD-Sympathisanten sowie Anhängerinnen von Kleinstparteien. Gemeinsam scheint ihnen allein: Das Selbstverständnis als individualisierte, widerständige Kritiker, die sich auf ihre Freiheit berufen. Deshalb lehnen sie alles ab, was diese zu beschneiden droht: Neben den Corona-Maßnahmen sind das auch die „dahinterstehenden“ Institutionen: die Regierung, die Medien sowie die Pharmaindustrie. Dabei ist allerdings weniger wichtig, „wogegen man konkret ist, sondern dass man dagegen ist“, so die von Oliver Nachtwey geleitete Studie. Das Einende besteht also im „Nein“ – ganz egal, welchen Ursprung dieses ist.
Singuläre Monaden
Schon bei ähnlichen Bewegungen wie den französischen Gelbwesten oder den britischen Brexiteers, darauf hat jüngst Nils Minkmar in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen, zeigte sich: Es handelt sich um den Protest der Einzelnen. Der hochindividualistische Charakter wird bei den „Querdenkern“ nicht nur in ihrer Zusammensetzung, sondern auch in den Argumenten ersichtlich. Die kollektive Gefahr eines tödlichen Virus und die Vulnerabilität bestimmter Gruppen verschwinden hinter der vermeintlich großen Zumutung, die eigene Autonomie werde durch das Impfen oder Tragen einer Maske bedroht. „Querdenker“ scheinen sich in dieser Hinsicht gewissermaßen als singuläre Monade wahrzunehmen, die ohne Verbindungen zu anderen auskommt. Kein Wunder also, dass sie keine wirklich gemeinsame Identität oder Agenda anstreben. Im Zentrum steht kompromisslos: der Einzelne.
Somit erinnert die Bewegung zunächst interessanterweise an ein Konzept, das in einem ganz anderen politischen Kontext entworfen wurde. Und zwar an die von Antonio Negri und Michael Hardt theoretisierte „Multitude“. In ihrem 2004 veröffentlichtem Werk Multitude: Krieg und Demokratie im Empire definieren sie diese als „Singularitäten, die gemeinsam handeln“. In der Multitude, auch als Vielheit übersetzt, sehen die beiden Denker das vielversprechende politische Subjekt der Gegenwart. Zwar handelten die Singularitäten als Vielheit gemeinsam – doch es besteht weder der Anspruch noch die Notwendigkeit, eine geteilte Identität auszubilden. Im Gegensatz zu altlinken Utopien verabschiedet sich die Multitude von jeglicher zwanghaften Zumutung der Kollektivität. Der Zukunftswind emanzipativer Politik, wie ihn Hardt und Negri etwa in der Occupy-Bewegung oder den spanischen Indignados erkannten, gehe von der zerstreuten, irreduziblen Vielheit postmoderner Identität aus – ohne Vermittlung oder konkrete Führung. Niemand muss sich einer Partei oder Organisation unterwerfen. Gemeinsam könne sich die Multitude dem „Empire“ – der gegenwärtigen Kontrollgesellschaft – entgegenstellen.
Hat sich mit den „Querdenkern“ also eine linke Utopie auf reaktionäre Weise verwirklicht? Diese Frage liefe zunächst insofern ins Leere, als dass sie einen allgemeineren gesellschaftlichen Strukturwandel mit nur einer politischen Richtung in Verbindung brächte. Vielmehr ist die heutige Gesellschaft der Singularitäten, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem gleichnamigen, 2017 erschienenen, Buch treffend betitelt hat, aber weder links noch rechts. In unserer Gegenwart wird ganz grundsätzlich das Besondere gegenüber dem Allgemeinen priorisiert. Individuelle Einzigartigkeit firmiert als das wertvollste soziale Kapital. Unsere Arbeit verrichten wir zunehmend als „self-made entrepreneurs“ und gefragt sind vor allem Produkte, die eine besonderes Maß an Authentizität versprechen.
Kompromiss, nein danke
Im Gegensatz zu ihrer Selbstbeschreibung bilden die „Querdenker“ also keineswegs einen Kontrapunkt zum vermeintlich „gleichgeschalteten“ Zeitgeist. Offenbart sich die Multitude als folgerichtige Politikform einer singularitätsbetonen Gesellschaft, findet sich diese auch andernorts. Allen voran bei Fridays for Future (FFF). Diese Bewegung ist ebenfalls einer Masse Einzelner gegen die aktuelle Klimapolitik entstanden. Im starken Kontrast zu den „Querdenkern“ hat sich FFF jedoch von der Kritik zur Politik entwickelt, indem Interessen ausdiskutiert, Ziele formuliert, Organisationsstrukturen etabliert und repräsentative Stimmen wie Luisa Neubauer hervorgebracht wurden.
Durch diese buchstäblich konstruktive Vorgehensweise ist der Protest von FFF anschlussfähig an politische Diskurse geworden. Genau das wollen die „Querdenker“ aber nicht. Als Interessensgruppe konstruktiv an institutioneller Politik mitzuwirken, ließe sich mit dem Selbstverständnis vieler „Querdenker“ nämlich gar nicht vereinbaren, weil dies notwendigerweise Fähigkeiten zur Kompromissfindung und organisatorischer Selbstdisziplinierung voraussetzte. Die Einzelnen müssten individuelle Ansprüche einem gemeinsamen Ziel unterordnen, sich in Hierarchien einordnen, Mehrheitsentscheide akzeptieren oder gar repräsentative Sprecher anerkennen. All das also, was im Rahmen des querdenkerischen Bezugsrahmens als unzumutbare Einschränkung der eigenen Freiheit gilt.
Immanente Selbstradikalisierung
Dem scheint auf den ersten Blick zu widersprechen, dass aus den Corona-Protesten mit Die Basis mittlerweile auch eine Partei hervorgegangen ist. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass auch diese letztlich eine Multitude bleibt und damit einen wandelnden Selbstwiderspruch darstellt. Handelt es sich doch um eine Partei, die jegliche Parteilichkeit ablehnt. Zu ihren amorphen Kernpunkten zählen Freiheit, Machtbegrenzung, Basisdemokratie oder Schwarmintelligenz – von konkreten gemeinsamen Inhalten hingegen fehlt jede Spur.
Wenn die „Querdenker“ nicht ernsthaft ins Feld der notwendig organisierten Politik eintreten wollen, sondern kompromisslos im präpolitischen Zustand eines Schwarms verweilen, dann ist eines indes schon vorprogrammiert: eine weitere Radikalisierung. Will die Bewegung wahrnehmbar weiter existieren, braucht sie eben diese, um sich weiterhin die lebenserhaltende Aufmerksamkeit der Medien zu sichern. Und man kann eine derartige Steigerungslogik auch bereits beobachten. Die Ablehnung von Maskenpflicht und Impfung ist bei vielen bereits um die Klage über eine biopolitische Verschwörungsaktion ergänzt worden. Bliebe diese Form der Radikalisierung aus, verlöre die Bewegung – zumal unter der sich fortsetzenden Aufhebung der Corona-Maßnahmen – den medialen Aufwind. Und der querdenkerische Schwarm verteilte sich schließlich wieder in alle Himmelsrichtungen. •
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