Heino Falcke: „Egal, was wir messen, es kommt immer Einstein heraus“
Ist das Standardmodell der Teilchenphysik widerlegt? Das zumindest legen jüngste Messungen des magnetischen Moments von sogenannten Myonen nahe. Doch der renommierte Astrophysiker Heino Falcke gibt im Interview zu bedenken: Womöglich handelt es sich auch nur um einen aus Frustration gespeisten Sensationseffekt.
Herr Falcke, Sie gehören zu den wichtigsten Astrophysikern der Welt und haben vor zwei Jahren der Öffentlichkeit das erste Bild eines schwarzen Lochs präsentiert. Nun wurde im US-amerikanischen Forschungszentrum Fermilab bei Chicago festgestellt, dass das magnetische Moment von Myonen größer zu sein scheint, als theoretisch erwartet. Zunächst: Was sind überhaupt Myonen?
Myonen sind die schwereren Geschwister der Elektronen, aus denen ja – neben Protonen und Neutronen – jene Materie besteht, aus der wir gemacht sind. Allerdings sind Myonen, die unter anderem bei atomaren Zerfallsprozessen oder dem Eintreffen von Sonnenstrahlung auf die Erdatmosphäre entstehen, auch immer wieder die Problemkinder der Teilchenphysik.
Warum Problemkinder?
Sie sind eben nicht nur schwerer als Elektronen – 207-mal so schwer, um genau zu sein –, sondern auch schwieriger zu messen und damit schwieriger zu verstehen. Zudem ist ein Myon nicht einfach ein Punkt, wie man sich ein Teilchen vielleicht vorstellen würde, sondern es wechselwirkt mit virtuellen Teilchen des leeren Raumes, die seine magnetischen Eigenschaften unscharf machen. Wollte man es sich bildlich vorstellen, könnte man sich dieses Teilchen denken wie einen Kompass, dessen Zeiger in einem Magnetfeld mit einer bestimmten Frequenz rotiert. Dieses Rotieren nennt man „Spin“. Und was das Team in Chicago nun mit großer Wahrscheinlichkeit festgestellt hat, ist, dass dieser Spin schneller ist als er nach Berechnung des Standardmodells eigentlich sein sollte.
Warum ist diese Erkenntnis ein Grund, um aufzuhorchen?
Aktuell weiß niemand so genau, wie diese zusätzliche Geschwindigkeit genau zustande kommt. Allerdings muss sie ja irgendwoher kommen. Sollten sich die Ergebnisse also als richtig herausstellen, würde das Standardmodell infrage gestellt werden, weil es neben den vier bekannten Grundkräften – Gravitation, Elektromagnetismus, starker und schwacher Kernkraft – auf eine fünfte hindeuten könnte, die ein neues Teilchen erzeugen kann – neben den 17 bereits im Standardmodell bekannten.
Sie klingen allerdings skeptisch.
Ich würde bei der Bewertung solcher Ergebnisse tatsächlich immer vor voreiligen Schlüssen warnen. Da ist etwas, das man nicht versteht, was mit komplizierten Rechnungen zu tun hat und was, je nach der Rechenmethode unterschiedlicher Gruppen, zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Und schon ruft man nach einer neuen Kraft. Mir ist das eigentlich zu früh, schon jetzt Spekulationen auf diesem Level anzustellen. Natürlich ist so etwas immer sehr aufregend. In vielen Fällen der Vergangenheit hat sich allerdings herausgestellt, dass es sich doch um einen Messfehler oder eine Fehlinterpretation der Ergebnisse gehandelt hat. Zudem muss man im Hinblick auf den aktuellen Fall sagen, dass die Messungen noch nicht signifikant sind, wie man sagt.
Das bedeutet, dass noch nicht klar ist, ob es sich doch nur um eine zufällige Abweichung handelt?
Richtig, die Wahrscheinlichkeit, dass die Abweichung zwischen Experiment und Theorie zufällig ist, beträgt derzeit noch 0,0025 Prozent. Damit man allerdings gerechtfertigt von einer Entdeckung sprechen kann, muss dieser Wert auf 0,00005 Prozent reduziert werden. Und auf der anderen Seite muss man immer schauen, womit eine Messung denn tatsächlich verglichen wird. Hier wird sie mit den Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik verglichen. Das klingt zunächst sauber und einfach, tatsächlich operieren wir hier aber oft mit sehr dreckigen Parametern und haben eine sehr komplizierte Art und Weise, Berechnungen anzustellen. Im Prinzip muss man hierfür alle möglichen Wechselwirkungen aller möglichen virtuellen Teilchen im Universum mit dem Myon richtig berechnen können. Meiner Meinung nach werden mittlerweile solche Revolutionen zu schnell und zu oft ausgerufen. Meistens sind sie dann nämlich doch keine.
Woher kommt diese Sensationslust?
Wir haben mit dem Standardmodell nun mal ein sehr solides Weltbild, das auf den vier genannten Grundkräften beruht und mit dem man fast die ganze Welt beschreiben kann. Wenn es jetzt allerdings noch eine fünfte Kraft gäbe, wäre plötzlich eine ganz neue Physik denkbar. Da wäre wieder wirklich was los in der Teilchenphysik. Ich bin da allerdings auch deshalb vorsichtig, weil man es hier auch mit der Grundfrustration der Teilchenphysik der letzten Jahrzehnte zu tun hat.
Die da wäre?
Sie findet nur noch, was sie erwartet. Das Standardmodell ist einfach zu gut. Uns geht das manchmal auch nicht anders: Egal, was wir messen, es kommt immer Einstein heraus. Man sehnt sich also nach der Erlösung durch ein Ergebnis, das es als falsch ausweist und eine neue Physik erlaubt, ja wieder ein neues Universum aufschließt. Ich möchte die Resultate aber auch nicht kleinreden, sondern nur mit dem Astronomen Carl Sagan daran erinnern, dass außergewöhnliche Behauptungen außergewöhnlich starke Beweise erfordern. Die Messung an sich ist wohl solide.
In Ihrem Buch Licht im Dunkeln beschreiben Sie Quantenphysiker als „Buchhalter des Universums“. Wie geht man als solcher eigentlich vor, wenn die Zahlen nicht stimmen?
Naja, das ist ja das Erstaunliche: Wir haben die Möglichkeit, neue schwarze Kassen aufzumachen und so das Budget anzupassen. Im Grunde gehen wir bei unseren Rechnungen so vor, als ob die Kasse nicht stimmt. Wir schreiben einen Fehlbetrag rein und rechnen dann damit weiter. In der Astrophysik stellt sich das konkret so dar, dass man etwas sieht, was man nicht versteht und dann formuliert man so etwas, wie eine dunkle Materie. So kann man praktisch mit dem Unwissen weiterrechnen. Und im Grunde ist das auch der Fall mit dem Myon. Hier würde man entweder eine neue Kraft oder ein neues Teilchen postulieren und schon würde die Rechnung wieder aufgehen. Wirklich interessant wird es meiner Meinung nach aber erst dann, wenn das, was man jetzt gefunden zu haben glaubt, auch andere Effekte erklären könnte. Dann könnte man davon ausgehen, dass man es wirklich mit etwas Neuem zu tun hat. Um es aber nochmal deutlich zu sagen: Ich glaube nicht, dass das Weltmodel erschüttert ist. Vielleicht ist es ein Sandkorn im Getriebe – und selbst das ist noch nicht klar.
Glauben Sie denn, dass wir, um im Bild zu bleiben, irgendwann allen Sand aus diesem Weltgetriebe entfernt haben werden? Oder präziser formuliert: Halten Sie es für möglich, dass wir irgendwann eine Theorie besitzen, die alles ohne schmutzige Parameter und den Faktor Ungewissheit erklären kann?
In gewisser Weise sind wir ja schon an diesem Punkt, was eben genau die Frustration der Teilchenphysik ausmacht. Es kann sein, dass wir schon alles erklärt haben, was wir jemals messen praktisch messen können. Und natürlich sehnen wir uns als Wissenschaftler nach Abweichung und Verletzung der Theorie. Allerdings sind Theorien auch irgendwann so gut, dass sie praktisch alles erklären. Der einzige Faktor, der wirkliche Unvorhersehbarkeit bringt, ist Zeit. Oder genauer: Unendlichkeit.
Das müssen Sie erklären.
Es ist, wenn man so will, die Natur der Natur, dass sie auf lange Zeiträume fundamental nicht vorhersehbar ist. Und zwar obwohl wir eigentlich alle Gesetze kennen. Was in einem nicht allzu komplexen System über kurze Zeiträume passiert, das können wir alles beschreiben und sehr genau vorhersagen. Sobald es sich aber um längere Zeiträume oder zu komplexe Systeme handelt, wird es knifflig. So könnte die Teilchenphysik beispielsweise nie die Gedanken eines Menschen vorhersagen oder korrekte Annahmen darüber machen, wie sich auch nur drei umeinanderkreisende Teilchen verhalten, wenn wir dies für sehr lange Zeiträume wissen wollen. Letzteres ist in puncto Teilchen und Kräfte an sich sehr einfach zu beschreiben. Dennoch lässt es sich nicht für große Zeiträume fehlerfrei berechnen. Und das liegt an der Chaostheorie, der Heisenberg'schen Unschärferelation, dem Fakt also, dass wir fundamental eigentlich gar nichts exakt messen können, und schlussendlich an der Tatsache, dass es Unendlichkeit nicht gibt. Denn nur wenn ich unendlich lange messe, kann ich auch unendlich genau messen. Die Unvorhersehbarkeit ist in unser Universum bereits eingebaut.
Da würde Ihnen Friedrich Nietzsche allerdings widersprechen. Dessen Idee der „ewigen Wiederkunft“ lässt sich wie folgt zusammenfassen: Da es im Universum endlich viele Teile, aber unendlich viel Zeit gibt, muss sich jeder Zustand notwendig unendliche Male wiederholen. Daraus leitet er eine Maxime des guten Lebens ab: Wir sollten jeden Moment so einrichten, dass wir wollen können, dass er unendliche Male wiederkehrt.
Ja, und dem würde ich fundamental widersprechen, denn nur ein Universum, das endlich ist, kann auch wirklich existieren. Ein Universum das unendlich wäre, wäre auch unendlich langweilig, unendlich relaxiert, unendlich durcheinandergewirbelt. Wenn etwas unendlich oft wiederkehrt, kann es nicht schön sein. Das ist auch der Grund, warum dieses Universum und dieses Leben so besonders ist: Aufgrund seiner jeweiligen Einzigartigkeit und Endlichkeit.
Heino Falcke ist ein deutscher Radioastronom und Professor an der Radboud-Universität Nijmegen. Jüngst erschien sein Buch „Licht im Dunkeln. Schwarze Löcher, das Universum und wir“ bei Klett-Cotta.