„Querdenken“: Die erste wirklich postmoderne Bewegung
Die Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei haben in einer Studie untersucht, wer an den Corona-Protesten teilnimmt und wie sie denken. Im Interview sprechen sie über überraschende Ergebnisse, anti-autoritäre Autoritäre und die Dialektik des Emanzipationsprozesses.
In der jüngst an der Universität Basel erschienenen Studie „Politische Soziologie der Corona-Proteste“ gehen die Soziologen Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei der Frage nach, wie Mitglieder der „Querdenken“-Bewegung in Deutschland und der Schweiz ticken. Dabei nutzten sie sowohl Umfragen in Telegram-Gruppen, bei denen mehr als 1150 Personen teilnahmen, als auch Feldrecherchen bei Corona-Protesten in Konstanz oder Leipzig. Die Ergebnisse sind zwar explorativ und können keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben, liefern jedoch wichtige Erkenntnisse für die aktuelle Debatte.
Philosophie Magazin: Frau Frei, Herr Nachtwey, in Ihrer Studie „Politische Soziologie der Corona-Proteste“ haben Sie die Zusammensetzung und Denkweisen der „Querdenken“-Bewegung untersucht. Was hat Sie bei den Ergebnissen selbst am meisten überrascht?
Nadine Frei: Was die Umfragen in den Telegram-Gruppen betrifft, fand ich persönlich manches nicht unbedingt überraschend, weil ich mir zuvor etwa schon die Demonstration in Konstanz angeschaut hatte. Dort war bereits auffällig, dass es sich tendenziell um Menschen über 40 handelt, die aus dem Mittelschichtsmilieu stammen. In Gesprächen kam dann oft auch zur Sprache, dass es verstärkt Selbstständige mit akademischem Hintergrund sind. Ebenso wurde deutlich, dass viele eine linksalternative Sozialisierung und eine Verbindung zur Esoterik haben, sodass oftmals Bezüge zur Natur und Selbstheilungskräften hergestellt wurden. Mich selbst hat dann eher überrascht, wie stark die Menschen von der Kinderthematik umgetrieben wurden. Auf der Demo in Konstanz gab es ein Transparent mit der Aufschrift „Masken sind Kindesmisshandlung“. Dass so eine Aussage auch viel Zustimmung in der Umfrage bekam, war für mich schon ein überraschendes Ergebnis.
Oliver Nachtwey: Bei mir waren die Überraschungen auf mehreren Ebenen vorhanden. Ich hatte mich in der Forschung bereits mit AfD-Unterstützern beschäftigt, die zuvor zivilgesellschaftlich aktiv waren. Dabei gab es viele Menschen, die auch mal in den Gewerkschaften oder anderen Organisationen aktiv waren, dann aber richtig nach rechts abgedriftet sind und dabei von einem anti-muslimischen Rassismus und autoritärem Denken durchdrungen waren. Gemessen an der medialen Darstellung hätte man bei der „Querdenken“-Bewegung ähnliches erwarten können. In unseren Befunden hat sich das aber so nicht bestätigt. Es gibt zwar insofern eine gewisse Ähnlichkeit, als dass auch bei den „Querdenkern“ viele von links kommen und nach rechts gehen, aber die Leute waren nicht in der gleichen Form autoritär und anti-muslimisch orientiert. Zudem fand ich erstaunlich, dass die Bewegung in einigen Teilen vernünftiger war, als es oft dargestellt wurde. Nicht in dem Sinne, dass dort nicht viele an Verschwörungstheorien glauben, das tun sie, sondern in dem Sinne, dass viele Teilnehmer sich noch für einen demokratischen Diskurs interessiert haben.
Sie schreiben in der Studie, dass sich in der Bewegung eine „Idealisierung alternativer Autoritäten“ findet. Sprich: Presse, Politik und staatliche Institutionen werden skeptisch betrachtet oder völlig abgelehnt, während es eine große Offenheit für Alternativmedizin sowie „alternative“ Medien gibt und die Menschen ein starkes Selbstverständnis als Kritikerinnen und Kritiker hegen. Wobei jedoch gar nicht so wichtig sei, wogegen man konkret ist, sondern nur, dass man überhaupt dagegen ist.
Frei: Das zeigt sich etwa an der Maske als politischem Symbol. Schon früh konnte man das in den USA beobachten: Wer eine Maske trägt, ist Demokrat, wer keine trägt, Republikaner. Auf der Konstanzer „Querdenken“-Demonstration im Oktober, an der auch viele neu-politisierte Menschen teilnahmen, hatte sich ein ähnliches Muster bereits etabliert. Unser vierzehnköpfiges Forschungsteam ist nicht zuletzt durch das Tragen von FFP2-Masken auf sehr viel Ablehnung gestoßen. Als wir Flyer für den Pre-Test der quantitativen Umfrage verteilt haben, wurden wir immer wieder auf die Maske angesprochen. Da gab es Ablehnung, Spott und Aggression. Die Maske, so hieß es dann, sei ein Symbol der Sklaverei, man selbst werde sich aber nicht unterwerfen. Solche Aussagen sowie das Nicht-Tragen einer Maske dienten auch als ein Teil der Gemeinschaftsbildung. Ein anderer bestand in der Kritik an etablierten Autoritäten. Fielen Namen wie Drosten, Merkel oder Spahn, wallte das Publikum kurz auf. Wobei keine völlige Ablehnung der Medizin zu beobachten war, sondern oft auf alternative Autoritäten verwiesen wurde, etwa den ehemaligen Bundestagsabgeordneten und Arzt Wolfgang Wodarg, der die Gefahren von Covid-19 relativiert. Oder es gab eine Gegenüberstellung von vermeintlich guter Alternativmedizin, die nah bei der Natur sei, und böser Schulmedizin, die mit der Pharmaindustrie verwoben sei. Ähnlich war es im Fall der Medien, sodass im Kontrast zu etablierten Medien auf Telegram-Channels verwiesen wurde. Auf die Frage, warum diese alternativen Autoritäten glaubwürdiger wären, folgte fast immer die Antwort, dass diese eben nicht „mainstream“, anders und authentisch seien. Es geht also viel um die Widerständigkeit als solche.
Niklas Luhmann hat einst bemerkt, dass Misstrauen ein funktionales Äquivalent des Vertrauens darstellt, da es ebenfalls Komplexität reduziert. Nur mit dem Unterschied, dass Menschen, die radikal misstrauen, sich auf eine viel kleinere Informationsbasis stützen können, etwa weil sie alle etablierten Medien ablehnen und sich nur mittels einer Handvoll Blogs informieren, dies aber paradoxerweise gerade dazu führt, dass sie anfälliger für Manipulationen werden. Finden wir hier etwas ähnliches?
Nachtwey: Ich würde hier eher an Luc Boltanskis Soziologie und Sozialkritik denken. Dort heißt es, dass Realität beständig hergestellt werden muss. Und die Menschen in der „Querdenken“-Bewegung haben zunächst einmal eine andere Deutung der Realität. Sie sehen unsere Realität als eine hermetisch geschlossene an, die von Politik, Medien und Wissenschaft erzeugt wird. Solch eine Wahrnehmung, so Boltanski, führt zu Generalverdacht und Paranoia. Und die „Querdenker“ begreifen sich selbst als Durchbrechende dieser – aus ihrer Sicht: falschen – Realität. Das heißt aber auch, dass gar nicht klar ist, ob „Querdenker“ dabei eine geringere Wissensbasis haben. Das können wir noch nicht sagen. Zunächst lässt sich nur sagen, dass sie das relevante und legitime Wissen nach anderen Kriterien bewerten, als wir es tun. Die Legitimitätszuweisung findet über die Codierung „alternativ“ oder nicht-mainstream statt. Ganz abstrakt gesehen, handelt es sich also um Gesellschaftskritiker. Sie hinterfragen, wie die Gesellschaft organisiert wird und unter welchen Wissensbedingungen Regeln gesetzt und durchgesetzt werden. Das ist zunächst einmal eine Form von Herrschaftskritik. Wir teilen diese Form der Herrschaftskritik nicht, weil wir auf Basis unseres Wissens die Deutung der Realität durch die „Querdenker“ für falsch und fatal halten. Aber: Nüchtern besehen, ist die Darstellung dieser Bewegung als „irrational“ ein klassischer Topos zur Delegetimierung von Kritik. Eine Pathologisierung von Kritik war seit jeher ein Element der Herrschaft. Ich persönlich stehe in diesem Fall dann auf der Seite der Herrschaft, weil ich glaube, dass das Virus existiert und die Maßnahmen richtig sind, aus meiner Sicht sogar noch nicht weit genug gehen. Aber wenn man diese Bewegung begreifen will, muss man sie zunächst soziologisch verstehen und rekonstruieren, warum ihre Anhänger so agieren, wie sie es tun.
Was hieße das konkret?
Nachtwey: Zugespitzt formuliert: Vielleicht ist das die erste wirklich postmoderne Bewegung. Auch in früheren Bewegungen gab es eine Kritik an der industriellen Moderne, man denke nur an die Lebensreformbewegung des 19. Jahrhundert, die auch in der frühen Arbeiterbewegung eine große Rolle spielte, oder die Anfänge der Grünen. Wenn also auch schon frühere Bewegungen amorph waren, hatten sie dennoch ein übergreifendes Koordinatensystem, das in der Realität verankert war. Im Fall von „Querdenken“ sehen wir jedoch eine Radikalität, bei der keine Kohärenz und Konsistenz mehr existiert oder angestrebt wird. Das meine ich mit postmodern: Es werden nur noch Sound- und Argumentbites herausgesucht, die dann auch extrem widersprüchlich sein können, was aber insofern nicht stört, als dass die Bewegung im Grunde indifferent gegenüber dem Argument selbst ist, solange es gegen die Herrschaft, die Regierung, das System geht. Es gibt ein anything goes in der Kritik, die nur kritisieren will, aber keine Maßstäbe der Kritik mehr anwendet.
In der Studie wird auch davon gesprochen, dass in den Argumentationen der „Querdenker“ immer wieder romantische Motive auftauchen, allen voran Bezüge zur Natur. Man kennt das ja aus der Romantik selbst, aber auch aus der Lebensreform- oder frühen Ökologie-Bewegung. Befindet sich „Querdenken“ in diesem geistesgeschichtlichen Resonanzraum?
Frei: Ich würde die Bewegung nicht als romantische Bewegung einordnen, weil man damit vieles an ihr nicht fassen könnte. Wenn wir von diesen romantischen Motiven sprechen, meinen wir nicht, dass die ganze Bewegung damit durchzogen ist. Denn es gibt auch viele rationale Bezüge, etwa indem oft mit anderen Zahlen hantiert wird. Es ist also eher ein Zusammenspiel aus romantischen und rationalen Bezügen. Wichtig ist aber, dass nicht ausschließlich rationale Argumentationen ausschlaggebend sein dürfen, sondern auch ein anderes, eben intuitives Erleben Platz erhalten soll. Um einen Begriff von Luc Boltanski und Eve Chiapello zu benutzen, könnte man also sagen, dass sich hier gewisse „künstlerkritische“ Aspekte finden, einen Rekurs auf das Authentische, die Natur und Selbstheilungskräfte.
Laut Ihren Erhebungen wird der Nationalsozialismus von „Querdenkern“ zwar weniger verharmlost als im gesellschaftlichen Durchschnitt, dennoch finden sich verstärkt antisemitische Motive oder die Vorstellung, die Bundesrepublik sei kein souveräner Staat. Vor dem Hintergrund, dass der Bildungsgrad der Bewegung relativ hoch ist: Wie lässt sich das erklären? Oder ist es an sich schon ein Irrglaube, die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien hätte etwas mit dem Bildungsgrad zu tun?
Nachtwey: Es gibt Studien, die hier schon einen Zusammenhang aufzeigen. Und auch in unseren Erhebungen zeigt sich, dass der Bildungsgrad einen gewissen Einfluss darauf hat, wie stark man zu Verschwörungstheorien neigt. Man müsste aber noch prüfen, wie signifikant der ist. Allerdings sind auch Menschen mit einem höheren Bildungsgrad nicht vor Verschwörungstheorien gefeit. Ganz im Gegenteil. Diese sind oft in der Lage, ihre Theorien noch viel elaborierter auszuführen. Ich habe beispielsweise zu unserer Studie auch Rückmeldungen aus dem akademischen Bereich bekommen, die in sehr langen und wissenschaftlichen Formulierungen argumentieren, warum die „Querdenker“ richtig lägen. Die Menschen können sich in ein Wissenschaftsnarrativ begeben und eine konkurrierende Rationalität aufbauen, in der es zwar nicht um Stimmigkeit geht, aber die Bezugssysteme der Wissenschaftlichkeit aufgerufen werden.
Politisch stellt sich ja die Frage, ob und wie man „Querdenker“ noch diskursiv erreichen kann. Nicht zuletzt, weil deren Nicht-Einhaltung der Corona-Regeln ja direkten Einfluss auf die Gesundheit anderer hat.
Nachtwey: Das ist in der Tat eine Besonderheit. Wenn die Anti-AKW-Bewegung Sitzblockaden durchgeführt hat, gab es vielleicht Rangeleien. Im Fall von „Querdenken“ kann die Praxis des zivilen Ungehorsams jedoch das Infektionsgeschehen beeinflussen. Das zeigt natürlich auch die immanente Radikalität der Bewegung und welch andere Perzeption der Welt sie hat. Max Horkheimer spricht im Vorwort der englischen Fassung zu Studien zum autoritären Charakter von einem „neuen anthropologischen Typus“, nämlich dem Typus des Autoritären. Was wir bei „Querdenken“ sehen, könnte man analog als die anti-autoritären Autoritären bezeichnen.
Und wie könnte man damit gesellschaftlich umgehen? In ihrer Studie heißt es am Schluss, dass auch zur Frage stehen sollte, welche strukturellen Voraussetzungen eine derartige Bewegung hervorbringen.
Nachtwey: Unsere Gesellschaft ist einerseits sehr kontrovers, aber innerhalb der Kontoversen ist sie wiederum oft sehr binär strukturiert: Bist du für oder gegen die Flüchtlingspolitik? Für oder gegen Identitätspolitik? Ich denke, dass wir eine Gesellschaft brauchen, die diskursiv durchlässiger ist. Damit meine ich nicht, falsche Argumente ernst zu nehmen, sondern zunächst einmal nur zu sehen, dass es Leute gibt, die als Bürgerinnen und Bürger Partizipationsansprüche stellen, diese aber nicht vernünftig artikuliert bekommen. Zumal es ja auch eine grundsätzliche Frage ist, wie politische Formeln in unserer Gesellschaft artikuliert werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: 15 Jahre lang hieß es, dass kein Geld mehr da ist, sodass die Betonung leerer Kassen geradezu zum Habitus von Finanzministern wie Theo Waigel oder Hans Eichel gehörte. Aber in dem Moment, als die Deutsche Bank im Zuge der Finanzkrise nachts bei Peer Steinbrück anrief, gab es auf einmal sehr viel Geld. Auf diese Weise wurde immer wieder ein diskursiver Dezisionismus hergestellt, der das Vertrauen in Institutionen sehr nachhaltig erschüttert hat. Aber er trifft auch auf einen mitunter narzisstischen Individualismus, wo die Anhänger der „Querdenken“-Bewegung sinngemäß sagen: „Anders als ihr Schlafschafe, habe ich das große Ganze durchschaut und deshalb darf ich mich auch über die Regeln hinwegsetzen und andere auch gefährden“.
Frei: Was auf den Demonstrationen sehr schnell klar wurde: Die Menschen haben ein enormes Redebedürfnis. Wir sind teilweise aus den Gesprächen gar nicht mehr herausgekommen. Jedoch ging es dabei nicht um einen Dialog, sondern lediglich um die Betonung, dass man doch nur Kritik formulieren wolle und nicht gehört werde. Einerseits begreift man sich also als Leidensgemeinschaft, weil man sich ausgeschlossen und nicht gehört fühlt, andererseits bleiben die „Querdenker“ jedoch nicht in dieser Opferrolle, sondern sehen sich selbst als die eigentlichen Experten. Und es ist natürlich schwierig mit jemandem ergebnisoffen zu diskutieren, wenn dieser sich als Experte sieht, nicht aber der Gegenüber. Deshalb sollte man diese Selbstbeschreibung der „Querdenker“ auch nicht übernehmen. Das ist ein Muster, das man von Rechtspopulisten kennt: Selbstmarginalisierung bei gleichzeitiger Enttabuisierung. Nach dem Motto: „Das muss ja noch sagen dürfen!“. Sie fordern, dass man ihnen Raum geben solle, nehmen sich diesen oftmals aber selbst, teilweise sogar gewaltvoll. Bei der Demonstration in Leipzig waren es etwa organisierte Neonazis, die die Durchbrüche gemacht haben, um in die Innenstadt zu kommen – und viele Teilnehmer sind dann einfach mitgegangen und haben ihre „Widerständigkeit“ fröhlich zelebriert.
Nachtwey: Ich glaube, die meisten wird man ehrlicherweise nicht erreichen können, da sie sich einem vernunftbasierten Diskurs entziehen. Da ist vielmehr vorher etwas schiefgelaufen. Man könnte sagen, dass wir es mit einer doppelten Pathologie der Dialektik der Aufklärung zu tun haben. Einerseits ist unsere Gesellschaft wissensbasierter denn je, andererseits ist das Wissen aber auch deutlich arbeitsteiliger organisiert. Wir haben also mehr Zugang zu Informationen, sodass nicht nur jeder Bundestrainer, sondern auch Epidemiologe sein kann, aber weil die Wissenschaft so arbeitsteilig ist, versteht man am Ende doch weniger davon. Das ist die Dialektik des Emanzipationsprozesses: Die Subjekte machen das, was man von ihnen erwartet, sie beteiligen sich an einem Diskurs, gleichzeitig schlägt die Allgegenwart von Informationen in eine Nicht-Aufklärung um, deren Anhänger nicht mehr adressierbar sind. Oder konkreter gesagt: Wenn man argumentiert, dass man eine Maske tragen sollte, weil die einen selbst und andere schützt, begreifen „Querdenker“ das nur als Unterwerfung. •
Prof. Dr. Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.
Dr. des. Nadine Frei ist Lehrbeauftragte im Fachbereich Soziologie an der Universität Basel.