Über Wachen und Schlafen
Wacht endlich auf! Diese Forderung findet sich heute in der gesamten Gesellschaft, bei Progressiven und Konservativen, bei Woken und Querdenkern. Die inflationäre Ausbreitung dieser Metapher offenbart vor allem eines: eine Hypnophobie, die von der Inspirationskraft der Träume nichts mehr weiß.
Amerikanische Konservative, vor allem Eltern schulpflichtiger Kinder, erzählen gern die Geschichte von der Bärenmutter. Sie geht ungefähr so: Viel zu lange lag ich im Winterschlaf. Aber dann wachte ich auf und erkannte blitzartig die Gefahr, die von linksliberalen Lerninhalten für meine Kinder ausgeht! Deshalb stelle ich mich jetzt auf die Hinterbeine und kämpfe so aggressiv gegen Aufklärung, LGBTIQ*-Literatur, Critical Race Theory und anderen Unflat, als wäre ich ein ausgewachsener Grizzly. Mama Bear Manual heißt eine Broschüre, die besorgten Bärenmüttern im gegenwärtigen Kulturkampf als Handreichung dienen soll. Weck den Bären in dir.
Und die Konjunktur solcher Schlafmetaphern ist keineswegs auf Nordamerika oder auf reaktionäre Milieus beschränkt. In „Querdenker“-Kreisen kursierte während der Coronapandemie das verächtlich gemeinte Bild von den „Schlafschafen“, die angeblich traumverloren nachblöken, was die Systemmedien ihnen in den Abendnachrichten erzählen. Ein Slogan der Black-Lives-Matter-Bewegung hingegen lautete: „Stay woke!“ – ein Adjektiv, das sich vom englischen Verb to wake („aufwecken“) herleitet und bedeutet, dass man soziale Missstände mit hellwachem Geist beobachtet. Wer würde in einem solchen metaphorologischen Klima noch zugeben, dass er gelegentlich gerne schläft?
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