Die KI komponiert mit
Im Auftrag der Telekom wurde Beethovens zehnte Sinfonie nun mittels Künstlicher Intelligenz vollendet. Das Ergebnis ist konservative Kunst im Gewand technischer Avantgarde.
Die Attraktivität Künstlicher Intelligenz liegt oft an falschen Erwartungen, die zum Etikettenschwindel einladen. Expert:innen weisen immer wieder darauf hin, dass KIs rein gar nichts mit menschlicher Intelligenz zu tun haben. Sie können Muster erkennen, etwa Tumore auf Röntgenbildern, oder Entscheidungen automatisieren, etwa die Länge von Haftstrafen entscheiden (und sind so oft auch automatisch ungerecht) – denken und reflektiert handeln aber können sie nicht.
Das hält freilich Unternehmen kaum davon ab, mit dem Hype um KI ein Geschäft oder wenigstens Werbung zu machen. „Nichts wäre schöner als ein Skandal“ – deutlicher als der Telekom-Chef Timotheus Höttgens kann man wohl kaum zu verstehen geben, dass man vor allem einen PR-Coup im Sinn hatte, als das Unternehmen den Auftrag erteilte, Ludwig van Beethovens unvollendete zehnte Symphonie mittels KI zu vollenden. Am 9. Oktober wurde sie nun im Bonner Beethovenhaus und auf dem eigenen Pay-Sender Magenta TV zur Uraufführung gebracht.
Schimäre maschineller Kreativität
Das Ergebnis ist mäßig interessant. Ja, es klingt irgendwie wie Beethoven, aber so klang schon die Rekonstruktion, die 1988 der Musikwissenschaftler Barry Cooper aufführte. Und ja, eine Maschine war an der Komposition beteiligt, aber das gilt auch für die vielen Vorgängertechniken, wie David Copes „EMI“ (Experiments in Musical Intelligence), der schon in den Neunzigern algorithmisch Bach-Fugen generierte. Warum man aber heute unbedingt alte Meister wiederbeleben sollte, statt tatsächlich Neues mit dieser Technik anzustellen, ist alles andere als klar. Denn als Kunstwerk ist die vollendete Zehnte so langweilig wie jede Arbeit, die „im Stile von“ produziert wurde – es ist konservative Kunst im Gewand technischer Avantgarde.
Bleibt die Schimäre maschineller Kreativität, einer wirklich autonom operierenden „künstlerischen Künstlichen Intelligenz“. So gut es aber klingt, davon zu sprechen, „eine KI“ habe Beethoven vollendet, ist das doch auch nur die halbe Wahrheit: Ein ganzes Team von Wissenschaftler:innen hat auf Grundlage der wenigen Skizzen, die Beethoven zum ersten Satz seiner Zehnten hinterließ, ein Modell trainiert, immer wieder nachjustiert und schließlich jene Ergebnisse ausgewählt, die ihnen am passendsten erschienen. Es war also keineswegs eine KI allein am Werk, sondern ein Verbund aus Menschen und verschiedenen Maschinen, von denen das KI-Modells nur eines war. Und das klingt schon sehr weniger skandalös.
Musizierende Cyborgs
Immerhin räumen einige der Beteiligten den kooperativen Charakter des Unternehmens ein, etwa Matthias Röder, Leiter des KI-Teams. Er sieht das Potential vor allem in einem Assistenzsystem für Komponist:innen – also eine Art Siri für den nächsten Beethoven? Das stellt einige sich hartnäckig haltende Ideen über die Autonomie von Künstler:innen und ihre alleinige Autor:innenschaft infrage. Und wahrscheinlich würde, bewusst angewandt, eine solche Kooperation hochinteressante – und vor allem ästhetisch neuartige – Werke hervorbringen. Dafür muss man sich aber vom Bild eines komponierenden HAL 9000 verabschieden und sich eher dem Bild musizierender Cyborgs zuwenden, in dem Menschen und Maschinen zu neuen Einheiten verschmelzen. Als PR-Event klingt das jedenfalls nicht schlechter. •
Hannes Bajohr arbeitet am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. Zuletzt gab er den Sammelband „Der Anthropos im Anthropozän – Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung“ (De Gruyter, 2020) heraus.
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