Elias Canetti: „Innerhalb des Parlaments darf es keine Toten geben“
Donald Trump wurde bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania beinahe ermordet. In seiner wirkmächtigen Schrift Masse und Macht hat Elias Canetti dargelegt, inwiefern das Zwei-Parteien-System die psychologische Struktur des Bürgerkriegs noch in sich trägt – und wo die Gewalt im politischen Kampf ihre Grenze findet.
„Das Zwei-Parteien-System des modernen Parlaments benutzt die psychologische Struktur der kämpfenden Heere. Im Bürgerkrieg waren sie wirklich, wenn auch widerstrebend, vorhanden. Man tötet die eigenen Leute nicht gern, immer wirkt ein Stammesgefühl blutigen Bürgerkriegen entgegen und führt sie gewöhnlich in wenigen Jahren oder rascher zu Ende. Aber die beiden Parteien, die da sind, müssen sich weiter messen. Sie kämpfen, indem sie auf Tote verzichten. Es wird angenommen, daß die größere Zahl in einem blutigen Zusammenstoß siegen würde. Die Kronsorge aller Feldherrn ist es, am Orte des wirklichen Zusammenstoßes stärker zu sein, mehr Leute bei der Hand zu haben als der Gegner. Der erfolgreiche Feldherr ist der, dem es gelingt, an möglichst vielen, wichtigen Lokalitäten die Übermacht zu haben, auch wenn er im ganzen der Schwächere ist. Bei einer parlamentarischen Abstimmung hat man nichts anderes zu tun, als die Stärke der beiden Gruppen an Ort und Stelle zu ermitteln. (…) Sie ist der Rest des blutigen Zusammenstoßes, den man auf vielfache Weise spielt, durch Drohung, Beschimpfung, physische Erregtheit, die bis zu Schlägen oder Würfen führen kann. Aber die Zählung der Stimmen ist das Ende der Schlacht. Innerhalb des Parlaments darf es keine Toten geben. (…) Ein Parlament ist nur ein Parlament, solange es Tote ausschließt.“•
Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main und Wien (Büchergilde Gutenberg) 1978.
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